Helden des Alltags

Autor: Annette Lübbers

Ein Mann bricht zusammen: Herzstillstand - Marion Eilers rettet ihn

Ein Mann bricht zusammen. Sein Herz steht still. Marion Eilers hilft sofort...

© Frank van Groen

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©© Frank van Groen

Eigentlich wäre Marion Eilers an diesem kalten, regnerischen Dezembernachmittag letzten Jahres lieber zu Hause geblieben. Aber Lola soll unbedingt noch auf der Wiese toben dürfen. Die selbstständige Tagesmutter aus Düsseldorf hat die Hündin erst kürzlich bei sich aufgenommen. „Geht ihr zwei doch schon mal vor“, sagt Eilers zu ihrem Mann. „Ich kaufe noch schnell ein paar Weihnachtskarten für meine Kolleginnen.“
In der kleinen Postfiliale um die Ecke, in der auch Schreibwaren verkauft werden, ist jetzt gegen 17 Uhr viel los – wie eigentlich immer in der Adventszeit. Links vorn, bei der Kiosktheke steht der Ständer mit den Weihnachtskarten. Eilers schaut sie in aller Ruhe durch. Am Postschalter stehen etwa 15 bis 20 Menschen Schlange, um Päckchen aufzugeben oder Briefmarken zu kaufen. Trotz der vielen Menschen in dem engen Raum ist es recht still.

Plötzlich ertönt ein lautes Krachen und Scheppern.

Die 54-jährige Tagesmutter fährt erschrocken herum. Ein stämmiger Mann, etwa 70 Jahre alt, ist zusammengebrochen und gegen die Regale auf der rechten Seite des Ladens gestürzt. Dabei hat er einen Verkaufsständer mitgerissen. Buntes Geschenkpapier rollt über den Boden. Marion Eilers blickt direkt in das Gesicht des Mannes am Boden. In diesem Moment holt dieser noch einmal geräuschvoll Luft. Dann – nichts mehr. Gleich darauf färbt sich sein Gesicht bläulich. Eilers weiß, was das bedeutet: Sein Herz steht still! Sie weiß auch: Jetzt zählt jede Sekunde. Energisch schiebt sie die wartenden Menschen, die vor Schreck wie erstarrt sind, zur Seite und zwängt sich an die Seite des Mannes. Sie fällt auf die Knie, setzt den Ballen ihrer rechten Hand auf das untere Drittel seines Brustbeins, setzt den Ballen ihrer linken Hand auf ihre Rechte. Dann drückt sie mit aller Kraft, lässt los, drückt, lässt los. Wieder und wieder. Drücken, loslassen, drücken. Bis das Gesicht des Mannes seine blaue Färbung verliert.

Als Nächstes muss Marion Eilers ihn beatmen, das ist ihr klar.

Während sie schon den Nacken des Mannes nach hinten streckt, schießen ihr Gedanken durch den Kopf: „Im Winter habe ich doch immer die Lippen kaputt.“ Und „hoffentlich ist der Mann nicht krank.“ Egal! Sie hält dem Mann die Nase zu, umfasst sein Kinn, presst ihre Lippen auf seinen Mund, bläst Luft in seine Lungen. Einmal, zweimal. Dann platziert sie ihre Hände erneut auf seinem Brustkorb. Drücken, loslassen, drücken. Sie blickt auf und fixiert eine junge Frau. „Sie rufen jetzt einen Krankenwagen“, sagt Eilers laut und deutlich. Auch das hat sie bei den Erste-Hilfe-Kursen gelernt, die sie regelmäßig bei den Maltesern absolviert: Blickkontakt ist wichtig. Jemanden direkt ansprechen. Weil sich sonst niemand angesprochen fühlt.

Eilers pumpt und beatmet. Sie spürt wie ihr von der Anstrengung übel wird.

Beatmen und pumpen. Das schafft sie nicht allein. Sie blickt sich nochmal um. Neben ihr steht jetzt eine Bekannte. „Übernimm du die Beatmung!“, sagt sie und pumpt weiter. Die Bekannte folgt der Aufforderung. Drücken, loslassen, drücken, loslassen, drücken, loslassen. Sie hat längst jedes Gefühl für die Zeit verloren. Aus irgendeinem Handy, das auf Lautsprecher gestellt ist, hört sie eine Stimme, die ihr den Takt vorgeben will. Wahrscheinlich die Rettungsleitstelle, vermutet sie. „Das ist nicht mein Takt“, denkt Eilers und fährt in ihrem Rhythmus fort: Drücken, loslassen, drücken.

Endlich betreten zwei Sanitäter den Raum.

Und ein Polizist, der alle unbeteiligten Kundinnen und Kunden der Postfiliale auf die Straße führt und niemanden mehr hineinlässt. Das gilt auch für Marion Eilers’ Mann, der voller Sorge mit Lola draußen wartet. Marion Eilers will mit der Herzmassage aufhören. Doch einer der Sanitäter sagt: „Machen Sie weiter“. Erst als er dem Bewusstlosen eine Spritze in den Arm gesetzt hat, darf Marion Eilers die Herzdruckmassage einstellen. Sie steht auf. Ihre Arme und Beine zittern. Ein Angestellter der Postfiliale führt sie nach hinten in den Waschraum und reicht ihr ein Handtuch. Eilers wäscht ihre Hände, spült sich den Mund aus. Der Polizist betritt den Raum und fragt sie: „Hatte der Mann eine Brille?“ Die 54-Jährige nickt. „Dann habe ich seine Frau da draußen“, sagt der Beamte.

Kurz darauf schließt Marion Eilers ihren Mann in die Arme.

Er ist kreidebleich. „Die Menschen draußen vor der Filiale haben mitbekommen, dass drinnen jemand wiederbelebt wurde. Sie wussten aber nicht wer. Mein armer Mann hat gedacht, ich hätte den Infarkt“, erzählt Eilers. „Weil ich doch damals selbst so überarbeitet war.“ Die dramatischen Ereignisse jenes Mittwochs im Dezember haben die Tagesmutter lange nicht losgelassen. Schon deshalb, weil ihre Arme noch wochenlang schmerzten. Und weil die Ehefrau des Mannes ihr einen langen Dankesbrief schrieb. „Er hat seinen Infarkt gut überstanden“, berichtet Eilers. „Mir ist wieder einmal klar geworden, wie wichtig Erste-Hilfe-Kenntnisse sind. Jedes Jahr mache ich einen solchen Kurs.“