Lebensmüde Frau will sich selbst in Brand setzen
Eine Frau übergießt sich am Münchner Hauptbahnhof mit Benzin. Marco Privitera handelt blitzschnell.

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Es ist heiß an jenem Tag im Juli. Marco Privitera (20), Student an einer Münchner Technikerschule, hat Mittagspause. Mit einem Mitschüler geht er hinüber zum Osteingang des Hauptbahnhof, Currywurst essen. Die Wurst mit Pommes steht bereits vor ihm auf dem runden Stehtisch, als Priviteras Blick Richtung Bahnhof schweift.
Eine schwarz gekleidete Frau mit Benzinkanister in der Hand taucht auf
In diesem Moment geht eine schwarz gekleidete Frau mit langem, dunklen Haar an ihm vorbei. Der Student hat sie schon öfter am Bahnhof gesehen. Sie verhält sich oft eigenartig, schimpft vor sich hin und schreit. Heute hält sie einen Kanister in der Hand. Groß. Schwarz. Privitera schätzt: Da passen 20 Liter rein. Wasser zum Beispiel. Oder Benzin. Er tippt auf Wasser, weil es so heiß ist. Die Frau geht zur Straße vor, er verliert sie aus den Augen.
Auf einmal ist sie wieder da, nur ein paar Meter von ihm entfernt. Sie schraubt den Kanister auf, in aller Ruhe.
Dann schüttet sie Flüssigkeit auf den Boden, in einem Kreis von mehreren Metern Umfang. Passanten eilen an ihr vorbei. Keiner schenkt dem Geschehen Beachtung. Privitera schon. Etwas macht ihn misstrauisch. Ein beißender Geruch liegt plötzlich in der Luft. Der Student bückt sich. Berührt mit den Fingerspitzen die Flüssigkeit. Schnuppert. Benzin! Er sieht zu der Frau hinüber. Mit beiden Händen stemmt sie sich den Kanister über den Kopf. Kippt ihn. Flüssigkeit strömt über ihr Gesicht und ihren Körper. Sie lässt den Kanister sinken, fasst in die rechte Tasche ihres Mantels und zieht ein Feuerzeug hervor.
Da begreift Privitera, sprintet los. Er greift nach dem Kanister, reißt ihn der Frau aus der Hand.
Er schleudert ihn Richtung Imbissstand. Dann packt er die Frau und zieht sie zu Boden. Sie schreit, in einer fremden Sprache, dazwischen auf Deutsch. Wirres Zeug. „Halt du sie fest, ich verräum’ den Kanister“, ruft Privitera seinem Mitstudenten zu. Er weiß: Der Behälter muss weg, er bedeutet Gefahr. Vielleicht hat die offensichtlich Lebensmüde Komplizen. Vielleicht stürzt sich gleich einer auf den Kanister und steckt alles in Brand. Privitera schraubt ihn zu, rennt um den Imbisstand herum zur Tür, zerrt sie auf, drückt der Verkäuferin den Behälter in die Hand. Dann eilt er zurück zu der Frau, löst den Mitschüler ab, bittet ihn, dafür zu sorgen, dass keiner durch die Benzinlache watet.
Privitera ist seit acht Jahren bei der freiwilligen Feuerwehr in Hausham, rund eine Autostunde südlich von München. Er weiß, wie explosiv die Mischung auf dem Asphalt sein kann. „Gehen Sie nicht hier durch, das ist Benzin!“, ruft auch er selbst den Passanten zu. Aber niemand reagiert. Keiner bleibt stehen. Die Leute laufen durch die Pfütze – manche mit brennenden Zigaretten in der Hand.
Endlich tauchen einige Wachleute der S-Bahn und Polizisten auf.
Außerdem die Feuerwehr mit zwei großen und einem kleinen Einsatzwagen. Ein Passant hat offenbar Alarm geschlagen. Marco Privitera überlässt die Frau den Polizeibeamten. Sie rappelt sich hoch. Ganz ruhig steht sie plötzlich da. Ein Polizist will von Privitera wissen, wo der Kanister ist. Und ob er ihm gehöre. Privitera ist verblüfft. „Natürlich ist das nicht mein Kanister“, erklärt er.
Die Beamten führen die Frau ab, die Feuerwehrmänner errichten Sperren vom Bahnhofseingang bis zur Straße.
Sie legen Streumittel auf und saugen das Benzin ab. Privitera und sein Mitschüler stehen noch etwa eine Stunde lang am Straßenrand und beobachten das Geschehen. In die Schule gehen sie an diesem Tag nicht mehr. Auch auf Currywurst ist ihnen der Appetit vergangen.
Es dauert lange, bis Privitera so richtig begreift, was geschehen ist.
Dass er mindestens ein Menschenleben gerettet hat; dass er selbst hätte Feuer fangen können. „Realisiert habe ich das erst am nächsten Tag“, erinnert er sich. Noch heute ist er bestürzt, dass an jenem Sommertag keiner der Passanten half. Auf dem Land, wo er herkommt, wäre das anders, meint er. „Wenn da einer Hilfe braucht, dann hilft man ihm“, sagt Privitera. Dort hat sich sein Feuerwehrkommandant im Namen der Mannschaft bei ihm bedankt. Leute aus dem Dorf kamen auf ihn zu, lobten ihn: „Eine gute Aktion, da am Hauptbahnhof.“
Von der lebensmüden Frau hat er nie wieder etwas gehört
Er selbst sieht die Bilder immer wieder vor sich. Von der Frau, die sich offenbar umbringen wollte und dabei riskierte, andere mit in den Tod zu reißen, hat er nie wieder etwas gehört. Ein Telefonat mit der Polizei kurz nach dem Vorfall, in dem er noch mal den Ablauf der Rettungsaktion beschrieb – das war’s. „Ich würde wahnsinnig gern wissen, was aus ihr geworden ist“, sagt Privitera. Aber selbst, wenn er nie wieder etwas von ihr erfahren sollte: Er ist froh, ihr Leben gerettet zu haben – auch wenn er dabei sein eigenes aufs Spiel gesetzt hat.
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