Reise

Autor: Anna Hunger

Die Essenz des Weins

Auf dem Doktorenhof in Venningen reifen feine Weinessige.

© istockfoto.com / tenzinsherab

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Georg Wiedemann lässt die bernsteinfarbene Flüssigkeit in einem winzigen Glas kreisen. Er steht in seinem Degustierzimmer zwischen schweren Holzmöbeln und roten Samtsofas, hat die Lippen gespitzt, kostet, schluckt und fragt: „Wie ist der?“ Schmeckt dunkel und süß. Elegant. Der nächste Essig: frisch, fruchtig, fröhlich. Der übernächste legt sich schwer dunkelrot auf die Zungenmitte. Dann löst er sich in Dutzende Fruchtfarben auf und verschwindet feinsäuerlich an den Zungenrändern. Wunderbar! „Praline?“ Wiedemann zaubert einen Teller Essigkonfekt auf den Tisch. „Hmmm“, sagt er. „Essig regt den Speichelfluss an, das macht Appetit. Und Essen hält uns bekanntlich am Leben.“ Deshalb sei Essig auch ein Lebensmittel.

Wäre Essig eine Religion, Georg Wiedemann wäre ihr Prophet. Einer in Jeans und Sakko, den dunklen Haarkranz unter der Glatze zum Zopf gebunden. Er ist der Chef des Weinessigguts Doktorenhof in Venningen, einem Fachwerkensemble von 1704 in der Pfalz. Mediterranes Klima, 950 Einwohner im Dorf und 60 Millionen Reben drumherum. 6,5 Hektar gehören ihm. Zu drei Vierteln beackert er sie mit Maschinen, den Rest mit seinem Pferd Hidalgo. Wiedemann liebt es, seine Trauben wachsen zu sehen, den Geruch des Weins und den Essig, der über die Jahre reifer und reifer wird. Von der Traube bis zur Abfüllung wird auf dem Doktorenhof alles von Hand gemacht. In dem efeuumrankten Hof, Wiedemanns Elternhaus, ist jedes Preisschild handgeschrieben. Essigflaschen drängeln sich in den Regalen, dazwischen Senf, Chutneys, Fruchtaufstriche. Würzig-süße Düfte füllen die Räume, ein vielschichtiges Bouquet.

Alleskönner Essig

Im Weinessigkeller, einem verwinkelten Gewölbe, hängen saure Wolken schwer über den Fässern. „Das sind die Engel“, sagt Wiedemann, die Essigengel. Essig hilft gegen Erkältung und wunde Babypopos An einem der Fässer gibt ein Holzkasten Essigdämpfe frei. Wer Husten oder Schnupfen hat, steckt die Nase hinein, nimmt einen kräftigen Zug. „Erkältung? Wie weggeblasen.“ Wiedemanns einjährige Enkelin kommt jeden Abend in den Genuss eines Essigbads. „Das beugt Ausschlägen und wunden Babypopos vor“, sagt die Mutter. Doch Essig kann noch mehr: Wiedemann malt sogar mit Essig – und Öl. Mannshohe abstrakte Gemälde in barocken Goldrahmen. „Die riechen wie Salatsoße.“ Mit einer solchen hat die Erfolgsgeschichte des Doktorenhofs begonnen.

 

 

Mit Salatsoße fing alles an

Früher hat Georg Wiedemann Wein gemacht wie seine Familie seit 500 Jahren. Den servierte er in einer Straußenwirtschaft mit Brot und Salat. Aber für die Dressings fand er nie den richtigen Essig. Und weil die Menschen früher beim Weinausbau stets ein kleines Fass für den Essig befüllten, hat er das auch ausprobiert. Sein erster Essig, eine Ruhländer Trockenbeerenauslese, reifte sechs Jahre. Seitdem hat er sein Herz daran verloren. Heute stellt er rund 40.000 Liter Essig im Jahr her. Das ist nicht viel. „Ein Naturprodukt“, sagt er, „soll man nicht hetzen.“ Wiedemann erntet seine Trauben, wenn sie schon fast zu Rosinen geschrumpelt sind. Sie werden gekeltert, in Holzfässern vergoren. Dann kommen Essigbakterien dazu. Mit der Zeit verwandelt sich der Alkohol in Essig. 400 Fässer lagern im Keller. 10, 20, 30 Jahre dürfen sie reifen. Dann werden Früchte und Kräuter zugesetzt: Aprikosen, Kirschen, Rosmarin und Lavendel aus seinem Garten, dazu Vanilleschoten, Salbei, Patschuli, Zimt. Oder Safran. Den baut der 58-Jährige selbst an. 25.000 Knollen aus dem Iran hat er in den Pfälzer Boden gesteckt. Seitdem blühen seine Felder im Herbst lilafarben. Wiedemann gleicht einem Alchemisten, der mit großer Leidenschaft lauter kleine Geheimnisse mixt. „Meine Essige sind wie Kinder. Man zieht sie groß, dann verlassen sie die Familie“, sagt er mit einem Lächeln. Die Kinder reisen weit. Ins Berliner Adlon, ins Ritz-Carlton nach Florida, zu schwedischen Sterneköchen und Ölscheichs – als Würze, Aperitif oder Digestif. Die 40 Sorten tragen Namen wie „Engel küssen die Nacht“ oder „Tränen der Kleopatra“. Die ägyptische Königin soll einmal die Wette abgeschlossen haben, sie könne die teuerste Speise der Welt genießen. Dann löste sie drei ihrer Perlen in Essig und trank sie. Wiedemanns Kleopatra ist zwölf Jahre alt, weich und rund. Die Säure kommt langsam und löst sich sanft wieder auf.