Ayurveda: Heilen auf uralte Weise
Die traditionelle indische Medizin hat nach Angaben klinischer Forscher viel mehr zu bieten als reine Wellness. Sie wird weltweit an Universitäten gelehrt und dient dem Gesundheitssystem, indem sie Abermillionen Menschen behandelt.

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Ihre Stärken liegen in der Vorbeugung und Heilung von vor allem chronischen Erkrankungen. Zudem bietet der Ayurveda ein ganzheitliches Menschenbild. Auch westliche Forscher bestätigen inzwischen die Heilkraft der alten Medizin. Zur Klugheit der Ärzte gehört aber auch, ihre Grenzen zu kennen.
Eine Visite im Ayurveda Lehrhospital der Universität Colombo, Sri Lanka, mit fast 500 Betten ist etwas Besonderes. Schwestern und Ärzte schreiten in bunten Saris durch die Gänge und die Ärzte vertrauen bei der Diagnose statt modernster Technik dem Feingefühl ihrer Finger. Sie fühlen den Puls des Patienten am Handgelenk, der jedem Menschen so eigen ist wie sein Gesicht. Ayurveda Ärzten, die auch „Vaidya“ genannt werden, zeigt dieser Pulsschlag ein ganzes Universum. In wenigen Augenblicken hat der Arzt das Pochen und Pumpen des Blutes gelesen und je nach seiner Form in ein Jahrtausende altes Schema gefügt: Vata, Pitta, Kapha.
Die drei Doshas
Auf diesen drei Doshas, genauer: auf ihrer für jeden Menschen spezifischen, schon bei der Geburt angelegten Mischung, beruht das komplizierte diagnostische und therapeutische Konzept des uralten medizinischen Systems. Beim Gesunden ist das individuell durchaus verschiedene Verhältnis der drei Doshas mehr oder weniger ausgeglichen, beim Kranken aus dem Lot. Mag das Dosha Prinzip in westlichen Ohren zunächst befremdlich klingen, Ayurveda, die „Wissenschaft von der Lebensspanne“, ist die älteste Schulmedizin der Welt – Lebensphilosophie und Erfahrungswissen in einem.
Ayurveda wird noch heute an Hunderten Hochschulen, Colleges und Krankenhäusern des indischen Subkontinents und angrenzender Länder gelehrt. Formal gleichberechtigt mit der westlichen Schulmedizin tun im Inselstaat Sri Lanka fast 20.000 Vaidyas ihren Dienst in Kliniken und privaten Praxen; mehr als 400.000 sind es in Indien.
Moderne Gesundheitslehre
Im Gefolge von Yoga und Meditation ist eine moderne Form der Gesundheitslehre zu einer globalen Bewegung herangewachsen. Ayurveda ist heute eine Medizin für Abermillionen, auch dank des wachsenden Kur-Tourismus. Gerade klinische Forschung und Naturwissenschaft loten das Potenzial der alten Medizinform aus. Ein vorsichtiger Dialog zwischen moderner Wissenschaft und alter Empirie hat begonnen.
Was ist und kann Ayurveda?
Nach der Pulsdiagnose wird der Arzt den Patienten auf Haut, Augen, Statur und Haltung schauen – und immer auf die Zunge. Danach gibt es eine ausgiebige Befragung: Urinfarbe, Verdauung, Schlafdauer, Lebenswandel. Schließlich die obligatorische Blutdruckmessung wie überall auf der Welt: Manschette, Stethoskop, Systole, Diastole. Ayurveda braucht Zeit. Kräuter, Bäder, Massage, Ölguss, Ernährungsumstellung, Reinigungs- und auch „psychobiologische“ Verfahren wie Yoga und Meditation wirken langsam. Sie folgen ausgeklügelten Therapieplänen, nach denen der Organismus von allen Seiten behutsam in Richtung Heilung geschubst werden soll. Für manche, die westliche Medizin mit ihren Adhoc- Lösungen gewöhnt sind, kaum zu ertragen. Eine wichtige Regel im Ayurveda ist die Kontrolle der Emotionen. Der Patient soll es nicht zulassen, dass sein Geist seinen Körper zerstört. Wenn man das korrigiert, so würden sich die Symptome von alleine reduzieren.
Die Kunst gesund zu bleiben liegt in der geschmeidigen Anpassung an die stetigen Herausforderungen des Lebens. Alter, Wetter, Freund und Feind: Alles durchströmt den Menschen und kann zu Dysbalancen im individuellen Spiel der Körperkräfte führen – bedingt durch falsche Ernährung, belastende Umweltfaktoren, Missbrauch von Leib, Psyche und Sinnen. Meide zu viele negative Gefühle wie Angst, Wut oder Gier, heißt es. Aber auch schädliches Handeln oder ein Übermaß an Verantwortung und Arbeit. Diese schleichenden Gifte zu umgehen ist die Grundlage aller Prävention im Ayurveda.
Körper und Seele sind Eins.
Eine Unterscheidung zwischen psychisch und körperlich kennt der Ayurveda nicht. Wenn sich die Seele beruhigt, dann beruhigen sich auch Kopf, Herz oder Darm – und umgekehrt. Doch es gibt auch Grenzen. Jeder universitär ausgebildete Ayurveda-Arzt beherrscht die Grundlagen der westlichen Medizin, denn die moderne Heilkunde ist bei technisch-diagnostischen Verfahren, in Notfall- und Intensivmedizin überlegen. Hilfe bei chronischen Leiden ist die Stärke des Ayurveda.
Panchakarma
Ein wichtiges Behandlungskonzept des Ayurveda ist das Panchakarma. Das Reinigungsprogramm von innen und außen soll überbordenden Doshas befrieden und das Verdauungsfeuer Agni anregen und Ama (belastende Ablagerungen aus Verdauungsvorgängen im Dickdarm) ausleiten. Zum Panchakarma können zusätzlich Einläufe gehören, bei manchen Patienten ein Aderlass. Nach solchen Prozeduren geht es mit warmen Decken in Entspannungshaltung. Innere Reinigung betrifft auch die Zähne, etwa bei Parodontitis. Hier werden z.B. Kräuter-Öl Spülungen sowohl für den gesunden wie für den kranken Mund empfohlen – inzwischen auch im Westen eine gängige Praxis.
Hilfe zur Selbstheilung
Die Hilfe zur Selbstheilung ist das Ziel aller Reinigungstherapien, auch der Massagen. So bringt mit Kräutern versetztes Sesamöl nachweislich Fettsäuren in die Haut, die dann – so die Theorie – im Körper gespeicherte fettlösliche Schadstoffe wie etwa Pflanzenschutzmittel leichter lösen und zur Entleerung in den Darm transportieren sollen. Deshalb tun die manuellen Behandlungen allen Dosha-Typen gut, vor allem Arthrose-Patienten. Massagen reduzieren Stresshormone – Ursache für das Wohlgefühl danach.
Die Phytomedizin
Während westliche Mediziner in der Regel versuchen, Krankheiten punktuell anzugehen mit zielgerichteten Einzelsubstanzen in hoher Dosierung, setzen Ayurvedische Kollegen breiter an. Ein Grundpfeiler: die Phytomedizin. Rund 1000 Heilkräuter, unzählige Mixturen – manche davon finden sich auch in der westlichen Medizin. Einige Pilotstudien zu Kräutermischungen liegen inzwischen vor. Eine indische Arbeitsgruppe konnte in Zusammenarbeit mit kalifornischen Forschern bei Rheumapatienten zeigen, dass der Ayurveda-Cocktail nach neun Monaten der gängigen medikamentösen Behandlung ebenbürtig war – aber mit deutlich weniger Nebenwirkungen.
Was bedeutet das für Sie?
Einen ayurvedischen Arzt oder Therapeuten zu finden, bereitet oft Schwierigkeiten. Denn gegenüber Ayurveda sind meist übertriebene Skepsis oder euphorische Erwartungshaltungen die Regel. Dass sich hinter Ayurveda auch ein Jahrtausende altes System der Gesundheitspflege und Behandlung von Krankheiten mit Schwerpunkt auf Lebensstilmodifikation verbirgt, entdecken konventionelle Medizin und klinische Wissenschaft erst in den letzten Jahren. Verlassen Sie sich bei der Auswahl eines geeigneten Therapeuten auf Ihren gesunden Menschenverstand. Ein verzweifelter Wunsch nach Hilfe darf Ihr Urteilsvermögen nicht trüben.
Ayurveda ist trotz seiner uralten Tradition erstaunlich modern: Prävention sowie die intensive Einbeziehung von Patienten spielen entscheidende Rollen. Ayurveda verfügt darüber hinaus über stark auf den Menschen bezogene Therapieansätze. Wichtig zu wissen ist, dass wirksame Ayurveda-Medizin nur sehr wenig mit der Wellness-Behandlung vieler Hotels gemein hat.