Gesundheit

Autor: Lisa Bendall

Kellys (9) unerklärbare Krämpfe

Eine Fallgeschichte aus dem Krankenhaus: Ein kleines Mädchen hat unerklärbare Muskelkontraktionen.

© Symbolfoto: iStockfoto.com / KatarzynaBialasiewicz

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Kelly war ein aufgewecktes Kleinkind. Im Jahr 2011 begann sich plötzlich ein Fuß des damals 18 Monate alten Mädchens nach innen zu drehen. Da es nicht besser wurde, suchten die Eltern einen Arzt auf. In den nächsten Jahren verschlimmerte sich der Zustand von Kelly zunehmend. Beide Beine waren inzwischen betroffen, sie konnte nicht mehr allein gehen. Schließlich ballten sich auch ihre Hände zu Fäusten, sodass Kelly weder Spielzeug noch Löffel halten konnte. Die behandelnden Ärzte in Großbritannien, wo die Familie lebte, erklärten den Eltern, es handle sich um Dystonie (permanente Muskelkrämpfe), fanden aber die Ursache nicht. Wiederholt durchgeführte Gehirnscans, Lumbalpunktionen sowie Blut-, Urin- und Gentests blieben ohne Befund. Kellys Zustand verschlechterte sich zunehmend.

Progressive Dystonie kann durch Anomalien in dem Teil des Gehirns ausgelöst werden, der die Bewegungen steuert – doch Untersuchungen schlossen dies aus. Zudem halfen die üblichen Dystonie-Medikamente wie Levodopa und Baclofen nicht. Die Ärzte konnten Kelly nur Schmerzmittel und Muskel-Relaxanzien verabreichen. Im Alter von vier Jahren griff die Krankheit auf Kellys Hals- und Gesichtsmuskulatur über – sie war nicht mehr in der Lage zu sprechen.

Neue Hoffnung: ein Gen-Check

Als das Mädchen mit seinen Eltern Verwandte in Dublin besuchte, wurde ihr Fall Professorin Mary King vorgestellt. Sie beschäftigt sich mit irischen Patienten, die unter seltenen genetischen Erkrankungen leiden. Die Neurologin registrierte Kelly und nahm ihr Blut ab. Professorin Mary King analysierte das Genom des Mädchens im Rahmen eines Genomics-Medicine-Ireland-Projekts. Das Ziel: mithilfe des genetischen Materials bessere Behandlungsmethoden zu finden. Einige Monate später stellte ein Kollege von Professorin King bei Kelly eine Anomalie fest – eine Genmutation, bekannt als KMT2B. „Als ich das sah, wusste ich, dass wir vermutlich die Antwort gefunden hatten“, erinnert sich Professorin Mary King. Die Mutation, die nicht vererbt wird, war erst knapp ein Jahr zuvor von Forschern identifiziert worden. Sie konnte eine progressive Dystonie verursachen. Die gute Nachricht für Kelly lautete, dass einige Patienten mit dieser Mutation positiv auf Tiefe Hirnstimulation (THS) reagiert hatten. Dabei werden während eines chirurgischen Eingriffs Elektroden ins Gehirn implantiert, die fortan die nicht richtig funktionierenden Neuronen stimulieren.

THS-Therapie hilft

„THS arbeitet wie ein Schrittmacher – fast wie ein neurologischer Neustart“, erklärt Professorin King. Diese Methode wird normalerweise nicht bei Kindern eingesetzt, aber für Kelly war es die einzige Chance, wieder gesund zu werden. Professorin King setzte sich sofort mit Kellys Ärzten in Verbindung – und erfuhr, dass das Mädchen wegen starker anhaltender Muskelkontraktionen auf der Intensivstation eines Krankenhauses lag. Sie wurde künstlich ernährt und beatmet. Ihre Eltern wussten nicht, ob sie überleben würde. Um nicht noch mehr Zeit zu verlieren, brachte das britische Ärzteteam Kelly umgehend in den OP-Saal, um die THS durchzuführen. In den Tagen nach dem Eingriff veränderte sich der Zustand von Kelly zum Positiven.

„Nach wenigen Wochen konnte das Mädchen wieder sitzen“, berichtet Professorin Mary King. Als ihre Gehirnzellen neue Verbindungen herstellten, machte sie weitere Fortschritte und konnte sich allmählich wieder bewegen. Im November 2017 sprach Kelly ihr erstes Wort seit vier Jahren: „Mama.“ Inzwischen erhält die Neunjährige regelmäßig Physiotherapie und kann sogar Dreirad fahren. Bis sich der maximale Erfolg der THS zeigt, kann es bis zu zwei Jahre dauern, aber die Ärzte sind optimistisch. Die Operation hat das lebhafte kleine Mädchen gerettet.