Gesundheit

Autor: Reader's Digest Book

Migräne – Tsunami im Kopf

Volkskrankheit Migräne: Allein in Deutschland sind mehr als acht Millionen Menschen betroffen. Doch trotz intensiver Forschung ist ihre Ursache nur unzulänglich geklärt.

 

© iStockphoto.com / Deagreez

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Neue genetische Analysen entdeckten 44 Genvarianten, die für ein erhöhtes Migränerisiko stehen. Klinisch unterscheiden Mediziner 30 Migränetypen, bei denen die Patienten auch sehr unterschiedlich auf Therapieverfahren ansprechen. Medikamente, die bei einem Teil der Betroffenen sehr wirksam sind, können bei anderen Patienten wirkungslos sein.

Viel mehr als nur Kopfschmerz

Migräne ist ein heftiger, pulsierender und anfallsartiger Kopfschmerz. Etwa 30 % der Betroffenen erleben zudem die Symptome wie visuelle Störungen, Gesichtsfeldausfälle und Flimmersehen, aber auch andere Sinnes-Veränderungen wie Geruchs- und Lärm-Empfindlichkeit, Übelkeit, Schwindel, ausgeprägte Müdigkeit oder, wenn auch seltener, Gefühls- sowie Sprachstörungen.

Die „Migränepersönlichkeit“

„Die Veranlagung dazu tragen die Geplagten bereits in ihren Genen“, beschreibt Prof. Stefan Evers, Neurologe am Krankenhaus Lindenbrunn. Messungen der Hirnströme ergaben, dass Migräniker Sinneseindrücke anders verarbeiten. Ihr Gehirn scheint schlechter in der Lage zu sein, mit länger andauernden Belastungsreizen ökonomisch umzugehen. „Misst man die Aktivität im Gehirn von gesunden Menschen, die durch Licht und Geräusche gereizt werden, sinken die Ausschläge nach einer gewissen Zeit ab. Bei Migränepatienten bleiben sie jedoch gleich hoch oder steigen sogar an“, erläutert der Essener Neurologe Holger Kaube. Diese Informationsflut muss pausenlos verarbeitet werden, was einen hohen Energiebedarf bedeutet und den Gehirn-Stoffwechsel auslaugt. Grund dafür ist eine Fehlregulation von Nerven und Blutgefäßen organischer Natur und nicht eine psychiatrische Erkrankung.

Auslöser und Medikamente

Die mangelhafte Abschirmfähigkeit allein bedingt aber noch keine Migräneattacke. Erst durch bestimmte Auslöser („Trigger“) gerät das Gehirn schmerzhaft außer Kontrolle. Sie sind individuell sehr verschieden: grelles Sonnenlicht, Stress im Büro, Wetterumschwünge, histaminreiche Lebensmittel wie reifer Käse oder Rotwein, körperliche Belastungen oder auch hormonelle Schwankungen bei Frauen. Sie setzen eine Kaskade von neurologisch-biochemischen Abläufen in Gang, die zur Kopfschmerzattacke führen. Allerdings in den meisten Fällen nicht unmittelbar nach der Belastung, sondern in Entspannungsphasen danach.

Selbstbehandlung – empfohlen, aber mit Warnungen

Migräne ist ein eigenständiger Kopfschmerztyp. Damit er richtig therapiert wird, muss er korrekt erkannt und diagnostiziert werden. Ist die Migräne durch eine ausführliche ärztliche Beratung abgesichert, reicht vielen Patienten mit leichteren bis mittelschweren Attacken eine individuelle Selbstmedikation. Welches rezeptfreie Schmerzmittel dabei am sinnvollsten zum Einsatz kommt, zeigt sich oft erst nach einiger Zeit. Als Mittel der ersten Wahl empfiehlt die Deutsche Migräne- und Kopfschmerzgesellschaft entweder Einzeldosen von z. B. 1 g Acetylsalicylsäure (ASS), 400 mg Ibuprofen, 1 g Paracetamol oder 2,5 mg Naratriptan oder eine fixe Kombination aus 250 mg ASS mit 200 –250 mg Paracetamol und 50 – 65 mg Koffein.

Parallel dazu bietet sich eine Einnahme von Medikamenten wie Metoclopramid oder Domperidon an, die die Übelkeit bekämpfen. Sie lindern die Begleitsymptome und beschleunigen die Wirkung der Schmerzmittel. Jedoch: Auch rezeptfreie Schmerzmedikamente dürfen nicht länger als drei Tage hintereinander und zehn Tage im Monat eingenommen werden. Durch die dauerhafte Schmerz-Unterdrückung erhöht sich sonst die Empfindlichkeit des Nervensystems. Bei Absetzen der Mittel kann es außerdem zu entzugsbedingten Kopfschmerzen kommen.

Gezielt und schnell: die Triptane

Bei schweren Migräneanfällen hat sich die Medikamentengruppe der Triptane seit vielen Jahren als zuverlässig wirksam erwiesen. Triptane verengen die Blutgefäße, die bei einer Migräneattacke erweitert sind. Außerdem hemmen sie die Ausschüttung entzündungsfördernder Eiweißstoffe des zentralen Nervensystems. Ebenfalls hemmen sie die Ausbreitung von Trigeminus-Schmerzreizen über die Hirnrinde. Bei bestimmungsgemäßem Gebrauch haben Triptane eher geringe Nebenwirkungen. In seltenen Fällen jedoch, vor allem in Kombination mit anderen Medikamenten, die den Serotoninstoffwechsel beeinflussen, kann sich das lebensgefährliche Serotonin-Syndrom ausbilden.

Wenn Medikamente nicht helfen

Wegen ihrer gefäßverengenden Wirkung eignen sich Triptane nicht für Patienten mit z. B. Schlaganfall oder Durchblutungsstörungen. Wieder andere Migräniker sprechen nicht auf sie an oder vertragen sie nicht. Und Medikamente sind im Langzeitgebrauch riskant. Im Falle einer chronischen Migräne finanzieren Krankenkassen daher eine vorbeugende Behandlung mit Botulinumtoxin („Botox“). Das Bakteriengift wird in die Kopf- und Nackenmuskulatur injiziert. Nach etwa einer Woche setzt eine Lähmung der betreffenden Muskeln ein, und der Druck auf empfindliche Nervengeflechte reduziert sich. Die Entspannung hält etwa drei Monate an. Nebenwirkungen sollen sich bei fachgemäßem Einsatz nicht zeigen. Viele Mediziner halten die Wirkung von Botox gegen Migräne jedoch für einen Placebo-Effekt.

Neue Forschungshoffnungen

Die medizinische Forschung versucht, ganz neue Wirkstoffe gegen die Migräne zu entwickeln. Ansatzpunkt ist ein Protein, das eine Schlüsselrolle bei der nervenbedingten Entzündung spielt: das Calcitonin GeneRelatedPeptide (CGRP). Vielversprechend schienen Hemmstoffe, die an den körpereigenen CGRP-Rezeptoren in Gehirn, Hirnhaut und Gesichtsnerven andocken und seine entzündungsfördernde Wirkung blockieren. Es zeigte sich jedoch: die Lebergiftigkeit war zu hoch. Aktuell setzt die Wissenschaft daher auf die Entwicklung monoklonaler Antikörper gegen CGRP selbst bzw. dessen Rezeptoren. Die Mittel werden im Abstand von Wochen bis Monaten unter die Haut gespritzt. Obwohl erste Ergebnisse vielversprechend sind, müssen Langzeitdaten abgewartet werden. Fast die Hälfte der Studienteilnehmer sprach aber nicht auf die monoklonalen Antikörper an, etwa 15 % besonders stark – ein weiterer Hinweis auf die Komplexität und Individualität der Migräne.

Von hohem Wert: die Prophylaxe

Eine häufige Einnahme von Akutmedikamenten führt zu erhöhten Gesundheitsrisiken, insbesondere zu Leberschäden und der Gefahr des medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerzes. Daher setzt man auf Vorbeugung mit Betablockern, Kalziumantagonisten oder Antiepileptika, das Arzt-Patienten-Gespräch, bei dem die große Bedeutung von Stress bzw. Entspannung für die Migräne-Entstehung verdeutlicht werden sollte, Progressive Muskelentspannung nach Jacobson und Kognitive Verhaltenstherapie.

Die Regelmäßigkeit des Seins

Ob und wie stark eine Migräne im Einzelfall auftritt, hängt weitestgehend von Umweltfaktoren ab. Oftmals sind es gerade Abweichungen von der Regelmäßigkeit, die das Migränikergehirn überfordern. Zu wenig Schlaf, zu langer Schlaf, Arbeitsstress oder gerade das Fehlen von Arbeit am Wochenende, ungewohnte körperliche Anstrengungen: Wer „seine“ Auslöser kennt, kann sie auch vermeiden – und so dazu beitragen, den Tsunami im Gehirn gar nicht erst zu wecken.

Was bedeutet das für Sie?

  • Gehen Sie bei starken, immer wiederkehrenden Kopfschmerzen unbedingt zum Arzt! Nur er kann, in Zusammenarbeit mit Ihnen, den Kopfschmerztyp richtig einordnen und eine geeignete Behandlung In komplizierten Fällen kann auch eine Überweisung an einen Neurologen oder Migränespezialisten notwendig sein.
  • Erkennen Sie selbst die ganz persönlichen Migräneauslöser in Ihrem Leben. Hilfreich kann da bei eine Smartphone-App oder auch ein Migräne-Kalender sein, in dem Sie eine Zeit lang Lebensgewohnheiten und auftretende Schmerzattacken protokollieren. Vorlagen gibt es auch im Internet.
  • Ritualisieren Sie Ihren Alltag: Behalten Sie die Regelmäßigkeit Ihrer Essenszeiten, Schlaf- und Freizeitgewohnheiten möglichst bei, auch an freien Tagen.
  • Setzen Sie auf eine gesunde Abwechslung zwischen Anspannung und Entspannung, Arbeit und Pause.
  • Körperliche Bewegung baut Stresssubstanzen im Körper ab und hilft so der Psyche zu entspannen.

Lesen Sie mehr dazu und zu ähnlichen Themen im Reader's Digest-Buch Das Neueste aus der Medizin 2018/2019.