Das Leben festhalten
Eine Frau will sich von einer Brücke stürzen. Andreas Imhof greift ein und rettet sie.

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An diesem Gründonnerstag hat Andreas Imhof mit seiner Frau Einkäufe erledigt. Jetzt am späten Nachmittag stehen die beiden im Norden Ingolstadts auf einer vierspurigen Brücke im Stau. Darunter verlaufen Bahngleise. „Oh Gott, schau mal! Da drüben steigt eine Frau übers Geländer“, ruft Imhofs Frau plötzlich. Sie springt aus dem Auto. Er folgt ihr sofort. Nur den Motor schaltet Imhof vorher ab, den Schlüssel lässt er stecken. Gleich darauf steht auch er am Geländer, über das seine Frau gerade steigen will. Auf der anderen Seite, etwa 15 Meter über den Gleisen und unmittelbar über den Hochspannungs-Fahrdrähten, sitzt eine offensichtlich Lebensmüde auf einer dünnen, etwa ein Meter breiten Abdeckung aus Blech. Ihre Beine hängen über dem Abgrund, ihre Hände halten die Blechkante umklammert. „Halt, das ist viel zu gefährlich“, sagt Imhof und zieht seine Frau zurück. Dann wendet er sich an die Unbekannte jenseits des Geländers.
„Hallo. Kommen Sie zu mir! Hören Sie mich?“
Keine Antwort. Imhof scheint es, als würde die Frau, die er auf 30 bis 40 Jahre schätzt, nur darauf warten, dass unten ein Zug vorbeibraust. Er ist nicht sicher, wie lange das Blechdach die Last eines Menschen aushält, geschweige denn das von zwei. Aber was, wenn sie vor seinen Augen springt, ehe die Polizei kommt? Dieser Gedanke ist für den damals 56-jährigen Geschäftsführer eines Lebensmittelunternehmens unerträglich. „Wir könnten rüberklettern und sie mit einem kräftigen Griff in die Jacke von hinten zurückziehen“, schlägt ein junger Bundeswehrsoldat vor, der ebenfalls zu Hilfe geeilt ist. Imhof erscheint das zu gewagt: Wenn sie mitbekommt, was vor sich geht, oder erschrickt und sich unbedacht bewegt? „Nein, ich versuche, mit ihr zu reden. Halte dich bereit, um einzugreifen, falls es notwendig werden sollte“, sagt er.
Ohne noch länger zu überlegen, klettern Imhof und der Soldat über das Geländer. Dann stehen sie auf dem Blechdach. Mit der linken Hand hält Imhof sich am Geländer fest. Es herrscht eine geradezu gespenstische Stille. Der Verkehr auf der Brücke steht, es ist kein Zug in Sicht. Vorsichtig beugt er sich zu der Frau, legt seine rechte Hand auf ihre Schulter, spürt das Zittern unter der Jacke. Eine Minute vergeht, noch eine. Imhof wird klar, dass er nur eine Chance hat, diese Frau am Springen zu hindern: Er muss sie emotional erreichen, nicht mit Worten, sondern mit dem Gefühl, dass da jemand ist. „Das lief ganz intuitiv ab. Ich wollte einfach einen Weg finden, dass diese Frau nicht vor meinen Augen springt“, erinnert er sich. Und so versucht der Retter, den Rhythmus seines Atems über seine Hand auf die Frau zu übertragen. Vorsichtig setzt er sich hinter sie, den Rücken ans Geländer gelehnt. „Atmen Sie tief ein und aus, … tief ein und aus.“
Behutsam rutscht er weiter vor, bis sich irgendwann ihre Körper berühren. Seine linke Hand hat er dafür vom Geländer gelöst, er sitzt ganz frei – und spürt plötzlich einen sanften Druck, zuerst an seiner Schulter, dann am ganzen Körper. Die Frau lehnt sich an ihn! „Tief einatmen und tief ausatmen.“ „Lass mich los“, flüstert sie. „Nein, ich lass dich nicht los.“
Will sie doch noch springen?
Plötzlich will sie ihre Beine auf das Dach ziehen, womöglich aufstehen, aber Imhof hält sie zurück, denn das wäre zu gefährlich. Stattdessen rutscht er Zentimeter für Zentimeter im Sitzen mit ihr nach hinten, Körper an Körper, beide Hände auf ihren Oberarmen, noch ein Stück, nur noch ein kleines bisschen. Würde sie jetzt springen, er könnte sie nicht festhalten. „Atme tief ein und aus.“ Am Geländer angekommen, stehen beide vorsichtig auf. Von den umstehenden Passanten sagt niemand etwas, die Menschen in den Autos im Stau schauen gebannt zu.
Der junge Soldat hebt die Frau über die Absperrung, Imhof steigt hinterher. Die Frau sitzt jetzt auf dem Gehweg und schluchzt. Aber der Boden ist doch viel zu kalt! Andreas Imhof zieht sie hoch, sie legt ihren Kopf an seine Schulter, sie umarmen sich und bleiben so stehen, bis Rettungsdienst und Polizei kommen. „Für die Rettungskräfte muss das seltsam ausgesehen haben“, sagt er heute, „wie da ein Pärchen auf der Brücke steht und sich umarmt.“ Dann wird die Gerettete im Krankenwagen weggebracht.
Wer die Frau ist, weiß er bis heute nicht
Andreas Imhof hat nie wieder etwas von ihr gehört, weiß nicht, was ihre Sorge war, kennt nicht ihre heutige Situation, nicht einmal ihren Namen. „Aber dieses letzte Flämmchen Lebenswillen, das gerade zu erlöschen schien, das habe ich gespürt und das haben wir in diesen wenigen gemeinsamen Minuten wieder entfacht“, erzählt er. Am Abend dieses Gründonnerstags bekommt Imhof Herzklopfen und sein Puls rast, aber am nächsten Morgen ist da nur noch ein unbändiges Gefühl von Freude – darüber, dass diese Frau noch lebt.
Für seine mutige Tat wurde er mit der Bayerischen Rettungsmedaille ausgezeichnet. Das schicksalhafte Ereignis hat ihn motiviert, einen lang gehegten Traum in die Tat umzusetzen. Andreas Imhof gibt heute Seminare, um Menschen zu inspirieren, innere Stärke zu erlangen.