Helden des Alltags

Autor: Ariane Heimbach

Anneke befreit Zwillings-Bruder aus dem brennendem Auto

Anneke hört einen Knall, sieht einen Feuerschein: Ein brennendes Auto! Und darin sitzt ihr verletzter Bruder Niklas.
© Barbara Dombrowski

©

©© Barbara Dombrowski

Es ist spät in der Nacht, als Anneke Breiholz am 2. August 2015 nach Hause kommt. Die 19-Jährige aus Mehlbek in Schleswig-Holstein hat den Abend mit ihrem Zwillingsbruder Niklas und Freunden auf dem Open-Air-Festival im nahe gelegenen Wacken verbracht. Niklas hat das Festival bereits vor ihr verlassen.

Als Breiholz gegen 3.30 Uhr auf dem elterlichen Bauernhof ins Bett geht, vermutet sie, dass ihr Bruder längst schläft. Plötzlich hört sie Reifen quietschen, dann einen Knall. „Der war so laut, dass ich sicher war, direkt vor unserem Haus sei etwas passiert“, erzählt die junge Frau. Sie öffnet das Fenster, kann aber nichts erkennen. Erst als sie sich hinauslehnt, sieht sie am Ende einer Koppel ein Licht – etwa 250 Meter entfernt. „Es war rotorange. Ich dachte, das sind die Lampen eines Autos.“

Während sie noch überlegt, dringen Hilferufe durchs offene Fenster. Schnell zieht sie Jacke und Schuhe an, steckt ihr Handy ein und schlüpft aus der Haustür.

Der Hof von Familie Breiholz liegt abgelegen an einer Landstraße. „Es gibt hier keine Straßenlampen. Trotzdem war es nicht stockfinster, weil der Mond schien“, erinnert sich Breiholz. Sie hatte keine Angst. „Ich gehe auch nachts mit dem Hund raus, und der ist der größte Angsthase“, sagt sie und lacht.

Sie will gerade losrennen, als ihr einfällt: mit dem Auto ihres Vaters ist sie schneller. Sekunden später ist sie an der Unfallstelle.

Was sie dort sieht, lässt ihr Herz heftig schlagen: Ein Pkw ist gegen die große Eiche geprallt, die neben der Koppel am Straßenrand steht. Die Frontscheibe ist zer- splittert, die Beifahrerseite komplett eingedrückt, die Fahrerseite hat weniger abbekommen. „Aus der hochgebogenen Motorhaube kamen Flammen“, erzählt die junge Frau.

Annekes Zwillingsbruder Niklas ist im Auto eingeklemmt

Sie bemerkt nicht, dass sie den Wagen kennen müsste. Erst als sie sich auf der Fahrerseite hinunterbeugt und durch das Seitenfenster blickt, erkennt sie in dem Mann hinter dem Lenkrad ihren Bruder Niklas. „Er sah mich an, sein Gesicht war schmerzverzerrt. Überall hatte er Schrammen von den Scherben“, erinnert Breiholz sich.

Niklas ist bei vollem Bewusstsein, aber er kann sich nicht bewegen und wiederholt immer wieder den einen Satz: „Mein Bein, mein Bein, es tut so weh.“ Warum er auf den Baum gefahren ist, weiß er nicht. Auch später wird er das nicht erklären können. Er hatte keinen Alkohol getrunken, fuhr nicht schneller als 80 km/h.

Niklas muss aus dem Auto raus - sonst verbrennt er!

Seiner Schwester wird in diesem Moment etwas ganz anderes bewusst: „Es wurde immer heißer, die Flammen wurden größer. Und ich dachte: "Mist, es ist nicht gut, wenn der Motor brennt.‘“

Sie hat keine Angst davor, dass das Auto explodiert – und macht instinktiv das Richtige: Sie versucht, ihren Bruder möglichst schnell aus dem Wagen zu holen. Denn tatsächlich explodieren brennende Autos fast nie. Aber ein Feuer im Motorraum braucht nur fünf bis zehn Minuten, bis es sich ins Innere eines Autos gefressen hat.

Breiholz wählt den Notruf, dann rüttelt sie an der Fahrertür, die nach ein paar Versuchen tatsächlich aufspringt. „Zum Glück war das Bein meines Bruders nicht eingeklemmt. Das hatte ich zuerst befürchtet“, sagt sie. Sie greift unter seinen Schultern hindurch und zieht ihn nach draußen.

Niklas schreit vor Schmerzen, als sie ihn aus dem Auto zieht

„Niklas hielt mit beiden Händen sein Bein fest und schrie vor Schmerzen“, erzählt die junge Frau. „Aber darauf konnte ich nicht achten. Ich wollte nur weg von dem brennenden Auto.“ Sie schleift ihn ein paar Meter weit zu einer Wegeinfahrt und setzt sich mit ihm hin. „Ich im Schneidersitz, Niklas’ Kopf auf meinen Beinen. Und dann haben wir gewartet.“

Als die Rettungskräfte nach rund zehn Minuten eintreffen, ist der Wagen völlig ausgebrannt. Breiholz hat inzwischen auch ihren Vater angerufen, der sich nun gemeinsam mit der Notärztin um Niklas kümmert.

Jetzt erst spürt Anneke ihren eigenen Schock. „Die ganze Zeit war ich total ruhig. Erst als ich überflüssig war, fing ich an, am ganzen Körper zu zittern. Da wurde mir bewusst, was mit Niklas passiert wäre, wenn ich nicht gekommen wäre“, sagt sie und schluckt. „Er wäre verbrannt.“ Mit dem Oberschenkelhalsbruch, der später bei ihm diagnostiziert wird, hätte er es allein nicht aus dem Auto geschafft.

Anneke sitzt neben ihrem Bruder im Rettungswagen - der drückt ganz fest ihre Hand

Anneke Breiholz sitzt in dieser Nacht neben ihrem Bruder im Rettungswagen, der ihn nach Itzehoe bringt. Sie erinnert sich, dass die Notärztin Niklas fragt: „Weißt du eigentlich, was deine Schwester für dich getan hat?“. Mit dem gebrochenen Bein hätte Niklas es nicht aus dem Wagen geschafft. Er wäre verbrannt.

Der junge Mann auf der Trage kann mit der Atemmaske über seinem Mund nicht sprechen. Aber er kann seine Dankbarkeit zeigen: „Er hat meine Hand genommen und gedrückt“, erinnert sich Breiholz. „Wir sind Hand in Hand zum Krankenhaus gefahren.“

:: Alle unsere Geschichten von Helden des Alltags finden Sie hier