Klassiker: Der Wendepunkt meines Lebens
Aus der ersten deutschen Ausgabe des Reader’s Digest Magazin im September 1948: Eine schlichte Lehre in der Kunst des Ausharrens.

©
Dreiunddreißig Jahre war ich damals und Arzt im Westen von London. Ich hatte mich mit viel Erfolg über verschiedene schwierige Assistentenstellen bei Bergwerksgesellschaften in Wales allmählich zu einer eigenen Praxis hochgearbeitet, die ich auf Abzahlung von einer reizenden alten Arztfamilie erwarb. Bei unserer ersten Unterredung starrten sie zwar entgeistert auf meine brüchigen Schuhe und die ausgefransten Manschetten, aber sie schenkten mir trotzdem ihr Vertrauen.
Ich glaube, ich war kein schlechter Arzt. Meine Patienten schienen mich gern zu haben, und das galt nicht nur für die netten alten Damen, die in der Nähe vom Hyde-Park wohnten; es fehlte ihnen in Wirklichkeit nichts, und sie bezahlten mich recht anständig für meine aufheiternden Krankenbesuche. Es galt auch für die Droschkenkutscher, für die Gepäckträger und die völlig erschöpften Menschen, die in den Ställen und Seitenstraßen von Bayswater lebten; sie konnten nichts zahlen, obgleich ihnen oft sehr viel fehlte. Und doch stimmte da etwas nicht ... obwohl ich alles behandelte, was mir unter die Hände kam, alle medizinischen Zeitschriften las, wissenschaftliche Tagungen besuchte und darüber hinaus noch Zeit fand, schwierige Examina für eine weitere Ausbildung zu bestehen ... ich war meiner selbst nicht ganz sicher.
Bei keiner Sache hielt ich lange aus. Nacheinander beschäftigten mich die verschiedenartigsten Pläne, mich zu spezialisieren, einmal als Dermatologe, dann als Ohrenarzt und schließlich als Orthopäde, aber schließlich verwarf ich alle diese Pläne. Ich arbeitete zwar von morgens bis abends und dazu noch halbe Nächte hindurch, aber in Wirklichkeit fehlten mir Ausdauer und Beständigkeit.
Der Wendepunkt: eine Magen-Krankheit
Eines Tages stellten sich bei mir Verdauungsstörungen ein. Nachdem ich mehrere Wochen lang allen dringenden Bitten meiner Frau gegenüber taub geblieben war, ließ ich mich von einem befreundeten Kollegen untersuchen. Ich glaubte, es wäre mit einem Rezept auf eine Flasche Bismut und einer Einladung zu einer Bridge-Partie abgetan. Stattdessen wurde ich zu meiner größten Bestürzung zu einer sechsmonatigen völligen Ruhe und einer Milchkur auf dem Lande verurteilt. Ich hatte ein Magengeschwür.
Ein kleines Bauernhaus in der Nähe von Tarbert im schottischen Hochland war der Ort, den wir nach vielen qualvollen Auseinandersetzungen für mein Exil aussuchten. Man stelle sich ein abgelegenes, weiß verwaschenes Bauernhaus vor in einer Bucht, in der es von morgens bis abends regnet, inmitten wilder Berge, die sich in grauem Nebel verlieren, während davor die Rinder mit langen Hörnern verdrossen ihre Disteln kauen, wie die Vorfahren der Schotten. Das war der Fyne-Hof.
Ich schreibe einen Roman
Man denke sich, dass in diese Gegend ein abgehetzter Großstadtmensch kommt, der außer Leibschmerzen noch eine Schachtel mit allerlei Pulvern in seinem Koffer hat, und man hat ein Bild von mir. Nichts ist für den tätigen Menschen quälender als erzwungene Untätigkeit. Eine Woche auf dem Fyne-Hof machte mich verrückt. Ich war an allen Studien gehindert, und mein ganzes Leben bestand darin, die Hühner zu füttern und das mich missbilligend anblickende Rindvieh bei seinem Vornamen zu rufen. Während ich verzweifelt nach irgendeiner Tätigkeit ausschaute, kammir plötzlich ein Einfall. Jahrelang hatte ich in meinen Träumen die vage Vorstellung genährt, dass ich einmal etwas schreiben könnte. Ich hatte in unbewachten Augenblicken meiner Frau gegenüber bemerkt: „Weißt du, wenn ich Zeit hätte, könnte ich einen Roman schreiben.“ Wobei sie mich dann über ihre Handarbeit freundlich lächelnd anblickte, mit der Frage „Wirklich, Liebling?“ und mich dann taktvoll wieder dazu brachte, über Johnny Smith’s Keuchhusten zu sprechen. Jetzt stand ich an der Küste dieses trostlosen Hochlandes, und in einem Anfall von Selbstrechtfertigung erhob ich meine Stimme: „Himmel Herrgott, dies ist meine Chance. Magengeschwür hin oder her, ich werde einen Roman schreiben.“
Ehe ich mich anders besinnen konnte, ging ich geradewegs in das Dorf zurück und kaufte zwei Dutzend Schreibhefte. Oben in meinem kalten, sauberen Schlafzimmer war ein weißgescheuerter Tisch aus Tannenholz und ein sehr harter Stuhl. Am nächsten Morgen saß ich auf diesem Stuhl, starrte auf ein vor mir aufgeschlagen liegendes neues Schreibheft und wurde mir langsam darüber klar, dass ich, abgesehen von ärztlichen Rezepten, noch nie in meinem Leben einen einzigen sinnvollen Satz geschrieben hatte. Bei diesem entmutigenden Gedanken griff ich zur Feder und starrte aus dem Fenster. Gleichviel machte ich mich nun an die Arbeit. Drei Stunden später rief mich Frau Angus, die Bäuerin, zum Essen. Die Seite war immer noch unbeschrieben. Als ich hinunterging, um meine Milch und meinen Rahm zu trinken – in Tarbert nennen sie das Quark – kam ich mir entsetzlich blöde vor. Ich hatte die gleiche Empfindung wie der unglückliche Dichter in Daudets „Jacques“, dessen unsterbliches Meisterwerk niemals über den ersten Satz hinauskam ... „In einem abgelegenen Tal der Pyrenäen“. Ich erinnerte mich mit finsterer Miene an den strengen Rat, mit dem mein alter Schullehrer mich zum Arbeiten anspornte: „Schreib es nieder“, hatte er gesagt, „wenn’s in deinem Kopf bleibt, wird niemals etwas daraus werden, schreib’ es nieder!“ Also ging ich nach dem Essen wieder nach oben und fing an, es niederzuschreiben.
Von der Schwierigkeit, eine Geschichte niederzuschreiben
Die Leiden und Mühen der nächsten drei Monate bleiben hier besser unerwähnt. In meiner Vorstellung hatte ich das Thema, das ich behandeln wollte, klar vor mir, die tragische Erzählung vom Egoismus und dem bitteren Stolz eines Mannes. Ich hatte bereits den Titel dieses Buches. Außer diesen simplen Anfängen litt ich an einem beklagenswerten Mangel. Mir fehlten sämtliche technischen Voraussetzungen zum Schreiben, und von Stil und Form hatte ich keinerlei Ahnung. Ein Wörterbuch hatte ich noch nie zu Gesicht bekommen. Die Schwierigkeit, einen einzigen einfachen Satz niederzuschreiben, erschütterte mich. Stunden um Stunden verbrachte ich auf der Suche nach einem Eigenschaftswort. Ich korrigierte so lange an der Seite herum, bis sie wie ein Spinnengewebe aussah. Dann zerriss ich sie und fing nochmals von vorne an. Aber den Anfang hatte ich immerhin gemacht, und nun war ich wie besessen von der Idee. Meine Helden nahmen allmählich Gestalt an, sie sprachen mit mir, sie weinten, lachten und – regten mich auf. So oft ich mitten in der Nacht einen Einfall hatte, stand ich auf, zündete die Kerze an, streckte mich auf dem Fußboden aus, bis ich den Einfall zu Papier gebracht hatte. Ich war wie besessen von der Neuigkeit dessen, was ich tat. Im Anfang brachte ich am Tage nicht mehr als achthundert mühsam niedergeschriebene Worte zusammen. Am Ende des zweiten Monats gelangen mir mit Leichtigkeit zweitausend Worte.
Plötzlich, als ich zur Hälfte fertig war, passierte das Unvermeidliche. Eine jähe Verzweiflung überfiel mich lawinenartig. Ich stellte mir die Frage: warum quäle ich mich hier mit dieser mühseligen Arbeit ab, für die ich in jeder Beziehung so ungeeignet bin; was hat das alles für einen Sinn? Eigentlich sollte ich mich ausruhen und erholen und nicht meine Kräfte mit dieser verrückten Arbeit aufreiben. Ich warf meine Feder hin. Fieberhaft überlas ich die ersten Kapitel, die eben in Maschinenschrift von meiner Sekretärin aus London gekommen waren. Ich war erschlagen. Nie, nie hatte ich in meinem ganzen Leben einen solchen blühenden Blödsinn gelesen. Niemand würde das lesen. Schließlich sah ich, dass ich ein vermessener Verrückter war, sah, dass alles, was ich geschrieben hatte und was ich je noch schreiben könnte, ein nutzloser, vergeblicher, nichtiger Unfug war. Ich beschloss, den ganzen Kram aufzugeben. Hastig und wütend schnürte ich das Manuskript zusammen, verließ das Zimmer und warf das Bündel in den Aschenkasten.
Die Niederlage
Meine Niederlage, oder wie ich es ausdrückte, meine Rückkehr zur Vernunft, erfüllte mich mit einer gewissen trotzigen Genugtuung. In dieser Stimmung ging ich zu einem Spaziergang hinaus in den sprühenden Regen. Auf halbem Wege zur Seeküste traf ich den alten Angus, den Bauern, der geduldig und mühsam ein Stück sumpfigen und torfigen Heidebodens, aus dem sein hart erarbeitetes kleines Bauerngrundstück bestand, umgrub. Als ich näher kam, starrte er mich mit einiger Überraschung an. Er wusste von meinen Plänen, und mit der angeborenen schottischen Hochachtung für das Schreiben hatte er es schweigend gebilligt. Als ich ihm erzählte, was ich eben getan hatte und warum, änderte sich sein verwittertes Gesicht langsam. Seine frischen blauen Augen unter den dunklen, sandfarbenen Brauen blickten mich prüfend voller Enttäuschung an. Er war ein schweigsamer Mann, und es dauerte lange, ehe er sprach. Aber selbst dann waren seine Worte rätselhaft.
„Kein Zweifel, Doktor, dass Sie von uns beiden der sind, der Recht hat, und ich der, der Unrecht hat.“ Es schien, als sehe er mir auf den Grund meiner Seele. „Mein Vater hat dieses Stück Erde hier sein ganzes Leben lang umgegraben und niemals eine fruchtbare Wiese daraus gemacht. Ich habe es mein ganzes Leben umgegraben und auch keine Wiese daraus gemacht. Aber Wiese hin oder her und“ – hier setzte er seinen Fuß eigensinnig auf den Spaten – „ich kann mir nicht helfen, ich muss graben. Denn mein Vater wusste, und ich weiß es auch, wenn man immer wieder gräbt, so wird doch mal eine gute Wiese daraus.“
Ich begriff. Ich beobachtete seine verbissen arbeitende Gestalt mit wachsendem Ärger und Unwillen. Ich war unwillig, weil er das besaß, was ich nicht hatte, einen schrecklichen Eigensinn, eine Sache um jeden Preis bis zu Ende durchzuführen; eine unauslöschlich brennende Entschlossenheit, angewandt auf die einfachsten und nüchternsten Pflichten des täglichen Lebens. Und plötzlich wuchs mein unbedeutendes Problem riesengroß an, erlebte Wandlungen, bis es vor mir stand als der Prüfstein der gesamten menschlichen Lebensführung. Es wurde zu dem zeitlosen Problem der ganzen Menschheit, entweder ein bequemes, zurückgezogenes Leben zu führen oder mühsam, ohne Aussicht auf Belohnung, für den Fortschritt zu kämpfen.
Das Manuskript wird gerettet
Durchnässt, voller Scham und wütend ging ich zum Bauernhaus zurück und zog das durchweichte Bündel Papier aus dem Aschenkasten. Ich trocknete es sogar in der Küche. Dann warf ich es auf den Tisch und setzte mich wieder mit einer wilden Verzweiflung an die Arbeit. Ich ging völlig in meiner grimmigen Entschlossenheit auf. Ich wollte mich nicht geschlagen geben, ich wollte nicht nachgeben. Ich schrieb noch hartnäckiger als zuvor, und schließlich setzte ich nach drei Monaten das Wort finis unter meine Arbeit. Die Entspannung und das Gefühl der Befreiung, die mich durchströmten, waren unglaublich. Ich hatte mein Wort gehalten, ich hatte ein Buch geschaffen. Ob es gut war, ob schlecht oder unbedeutend, war mir gleichgültig. Meinen Verleger wählte ich auf sehr einfache Weise, indem ich die Augen schloss und auf einem Katalog einen Namen mit einer Nadel festhielt. Ich schickte das gesamte Manuskript ab und vergaß die ganze Angelegenheit augenblicklich. In den Tagen, die nun folgten, gewann ich allmählich meine Gesundheit wieder und fing an, mich über mein faules Leben zu ärgern. Schließlich kam der Tag meiner Erlösung näher. Ich ging durch das ganze Dorf, um mich überall von den einfachen Leuten, mit denen ich mich angefreundet hatte, zu verabschieden. Als ich in das Postamt kam, überreichte mir der Beamte ein Telegramm, das die dringende Aufforderung enthielt, meinen Verleger aufzusuchen. Ich nahm es sofort und zeigte es wortlos John Angus. Der Roman, den ich bereits weggeworfen hatte, war von der Book-Society gewählt worden, er wurde dramatisiert, erschien in Fortsetzungen und wurde in neunzehn Sprachen übersetzt und von Hollywood angekauft. Bis zum heutigen Tage ist er in einer Auflage von drei Millionen Exemplaren herausgekommen. Er hat mein Leben von Grund auf weit über meine wildesten Träume hinaus geändert ... und nur, weil ich zur rechten Zeit eine gute Lektion über den Segen der Ausdauer erhielt. Aber diese Lektion geht noch tiefer. Heute, wo die Luft erfüllt ist mit schrillem defätistischem Geschrei, wo unsere geschlagene Welt entmutigt wimmert: was hat es für einen Sinn ... zu arbeiten, zu sparen ... weiterzuleben, wenn doch schon wieder die Kriegsfurie an der nächsten Ecke lauert, bin ich froh, mich daran wieder zu erinnern; in dem gegenwärtigen Chaos, in dem kein leuchtendes Vorbild uns aufrecht erhält, steht die Türe, die zu dunkler Verzweiflung führt, weit aufgerissen. Wir können diese Tür nur schließen, wenn wir bei der Arbeit bleiben, die jeder von uns gerade tut, gleichviel, wie unbedeutend sie sein mag. Wir müssen sie weiter tun und zu Ende bringen.
Ignatius von Loyola spielte eines Tages ein Ballspiel mit befreundeten Studenten, als plötzlich jemand mit allem Ernst die Frage aufwarf, was ein jeder von ihnen tun würde, wenn er wüsste, dass er in zwanzig Minuten sterben müsste. Alle waren sich darüber einig, dass sie in wilder Hast zur Kirche stürzen würden, um dort zu beten, alle, außer Ignatius. Der antwortete: „Ich würde mein Ballspiel zu Ende spielen.“ Der tiefe Sinn alles schöpferischen Erfolges, wie ihn Ignatius kannte und auch mein alter schottischer Bauer, liegt in dem Siege über sich selbst. Alle, die diesen Sieg kennen, werden niemals die Niederlage erleben.