Messer-Attacke: Nur Saskia greift ein
Saskia Jürgens kommt Opfern einer Messerstecherei zu Hilfe.

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26. Februar 2017. Saskia Jürgens ist hundemüde. Es ist ein Uhr nachts. Erst war die damals 17-Jährige mit ihrem Freund in Dortmund shoppen. Danach ist sie mit Freundinnen durch den Stadtteil Mengede gezogen. Nun will sie möglichst rasch zurück ins Nachbarstädtchen Waltrop, wo sie mit ihren Eltern lebt. Eigentlich hat sie versprochen, nachts nicht allein unterwegs zu sein. Aber der Bus fährt um diese Uhrzeit nur einmal in der Stunde, und ihre Freundinnen wollen noch bleiben. Also geht sie allein zum Busbahnhof. Dazu muss sie durch eine Unterführung.
Plötzlich ist Saskia von einer Gruppe junger Männer umringt.
Ganz normale Jungs, zwischen etwa 16 und 20 Jahren, unauffällig gekleidet. Einer spricht sie an. Barsch im Ton. „Wo ist der hin?“, fragt er. Jürgens hat keine Ahnung, von wem der junge Mann redet. „Die gehört nicht dazu!“, sagt ein anderer und zieht seinen Kumpel weiter. Der jungen Frau wird ein bisschen mulmig. Einer der Jungs hat eine leere Bierflasche in der Hand, ein anderer einen Golfschläger. „Komisch“, denkt Jürgens. „Was macht der mit einem Golfschläger nachts in der Stadt?“ Die jungen Männer ziehen im Laufschritt weiter, die Treppe hinauf zum Busbahnhof. Instinktiv beschleunigt Jürgens ebenfalls ihre Schritte. Sie kann die vor ihr Laufenden nicht mehr sehen, aber sie hört Glas splittern. Sie sprintet die Treppe hoch, stolpert, fängt sich wieder.
Eine Prügelei
Auf dem Parkplatz vor den Bushaltestellen stehen die jungen Männer im Pulk und prügeln auf einen Einzelnen ein. Im Schein der Straßenlaternen sieht Jürgens, wie er schwankt. Und sie sieht Blut, viel Blut. Auf Kleidungsstücken, auf den ihr zugewandten Gesichtern und Händen. Jürgens sieht den Bus, den sie nehmen will, den Busfahrer hinterm Lenkrad. Vier oder fünf Fahrgäste stehen noch vor der Bustür. Sie ist nicht allein. Immerhin. Zeit, über ihre Gefühle nachzudenken, hat Jürgens nicht. Nimmt sie sich nicht. Zu groß ist ihre Empörung darüber, dass hier so viele einen Einzelnen angreifen. Die junge Frau rennt auf die Kämpfenden zu, schreit: „Was macht ihr da? Hört sofort auf damit!“ Sie packt einen der Schläger an der Kapuze seines Sweatshirts, zieht ihn zurück. Boxt einem anderen in den Rücken. Immer wieder. Die Männer schubsen sie weg. Einer sagt: „Misch dich da nicht ein.“
Angreifer stechen mit Messern auf den am Boden Liegenden ein
Jetzt erkennt Jürgens, dass es ein zweites Opfer gibt, das bereits am Boden liegt. Ebenfalls ein junger Mann. Mehrere der Angreifer stechen mit Messern auf ihn ein. 14-mal. Aber das erfährt Jürgens erst später. Aus dem Augenwinkel sieht die junge Frau, wie der Busfahrer – nur 15 bis 20 Meter vom Tatort entfernt – die Tür seines Busses schließt. Schließt? Schließt! Ein paar Fahrgäste sind stehen geblieben. Jürgens weiß nicht, ob sie auf einen anderen Bus warten soll. Was die junge Frau sicher weiß ist: Keiner macht Anstalten zu helfen. Jürgens ist fassungslos. „Was seid ihr bloß für Menschen?“, ruft sie ihnen zu. „Ihr seht doch, was hier abgeht – warum helft ihr nicht?“
Saskia zerrt an den Angreifern
Immer weiter prügeln ein paar der Angreifer auf den Mann ein, der sich noch auf den Beinen hält. Jürgens zieht und zerrt weiter an den Tätern. 30 Sekunden, eine Minute? Zwei Minuten? Sie weiß es nicht. Dann sinkt auch das zweite Opfer zu Boden, versucht stöhnend wieder hochzukommen. In diesem Moment schlägt ihm einer der Angreifer den Golfschläger ins Kreuz. Der Mann bricht zusammen, rührt sich nicht mehr. Wie auf ein Signal rennen die Täter zur Unterführung und verschwinden. Der zweite verletzte Mann versucht sich aufzurichten und fällt zurück – wimmernd. Jürgens tippt 112, ruft den Notarzt. Gleich darauf will sie 110 für die Polizei tippen, aber ihre zitternden Finger gehorchen ihr nicht mehr. Neben ihr taucht ein 30- bis 40-jähriger Mann auf. Woher, weiß die junge Frau nicht. Er nimmt ihr das Handy aus der Hand. „Ich mache das“, sagt er.
Da kommt die Busfahrer anspaziert
Plötzlich steht auch der Busfahrer neben ihr. Seelenruhig zieht er an seiner E-Zigarette und fragt: „Alles in Ordnung hier?“ Der Helfer, der eben die Polizei gerufen hat, blickt dem Fahrer ins Gesicht: „Na, Sie haben ja die Ruhe weg“, sagt er sarkastisch. Jürgens kniet auf dem Asphalt, öffnet die Jacke des Schwerverletzten, bettet seinen Kopf auf ihre neue Handtasche. Sie weiß nicht, was sie sonst noch tun könnte. Sie ist müde, erschöpft. Ihr Kopf ist leer. Endlich rollen drei Polizeiwagen mit Blaulicht auf den Parkplatz. Dann der erste Krankenwagen. Erst jetzt ruft Jürgens ihre Eltern an. Der Bus – ihr Bus – ist abgefahren. Die Rettungssanitäter haben den Schwerverletzten gerade in den Krankenwagen verfrachtet, da biegt ihr Vater auf den Parkplatz ein, schließt seine mutige Tochter in die Arme.
Später erfährt Jürgens, dass sich zwei der Täter gestellt haben. „Die haben wohl doch noch ihr Gewissen entdeckt“, mutmaßt sie. Warum weder Busfahrer noch wartende Fahrgäste Hilfe geleistet oder die Polizei gerufen haben, bleibt für die junge Frau unfassbar. Für den Löwenmut, mit dem sie ihr Unbekannte verteidigt hat, wurde sie inzwischen mit dem Aktenzeichen-XY-Preis ausgezeichnet. In seiner Rede nannte Bundesinnenminister Thomas de Maizière Menschen wie Jürgens ein „gutes Beispiel für Zivilcourage“.