Stephan stoppt den Sattelschlepper
Ein Sattelschlepper gerät in einer Siedlung außer Kontrolle. Stephan Koenig stoppt ihn mit einem waghalsigen Manöver

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Stephan Koenig liebt motorisierte Fahrzeuge und kennt sich mit ihnen aus. Sein Wissen hat am 13. Mai dieses Jahres vermutlich Menschenleben gerettet. An diesem Montag hat der Mechatroniker aus dem westfälischen Lippetal den ganzen Morgen vor der Haustür an einem Motorroller gearbeitet, den er verkaufen will. Gegen 11.30 Uhr geht der 48-Jährige zurück ins Haus, um sich umzuziehen. Heute hat er Spätschicht. Den Roller lässt er im Eingangsbereich stehen, der Schlüssel steckt noch im Schloss.
Ein riesiger Lkw fährt unkontrolliert durch Wohngebiet
Eher zufällig blickt Koenig aus dem Wohnzimmerfenster und sieht etwas großes Rotes aufblitzen. Das Führerhaus eines Lastkraftwagens. In der verkehrsberuhigten Wohnsiedlung, in der Familie Koenig lebt, darf ein solcher 38-Tonner gar nicht fahren. Ungläubig sieht Koenig das riesige Gefährt von links nach rechts schlingern. Dabei überrollt es Blumenbeete und Raseneinfassungen aus Stein. Koenig hört das Krachen abbrechender Äste und Schreie aus der Nachbarschaft. Er läuft ins Freie. Ein paar seiner Nachbarn stehen vor ihren Türen. Sie rufen Koenig zu, dass der Koloss schon zweimal die kleine Straße entlanggekommen ist – allerdings ohne Schäden anzurichten. Kurz erwägt der Mechatroniker, dem Lkw den Weg mit seinem Auto zu versperren, aber er verwirft den Gedanken sofort. Ein Koloss dieser Größe hat selbst mit nur zehn oder 20 km/h genug Kraft, um Hauswände zu durchbrechen.
Der 48-Jährige sprintet hinter dem Lkw her, bis er auf gleicher Höhe mit dem Führerhaus ist. Das Fenster steht offen. Koenig schreit: „Halten Sie den Lkw an.“ Der Fahrer, ein Mann mit grauen Haaren, schaut ihn kurz und seltsam abwesend an. Dann wendet er den Blick zurück auf die Straße, setzt den Blinker und biegt ab. Angst erfasst Stephan Koenig. In ein paar Minuten wird die Schule aus sein, dann machen sich die Kinder der Siedlung auf ihren Rollern und Fahrrädern auf den Weg nach Hause. Auch seine neunjährige Tochter. Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn der Lkw eine weitere schlingernde Runde durchs Wohngebiet dreht. Koenig ist klar, dass er zu Fuß keine Chance hat. Er sprintet zurück zu seinem Haus, schwingt sich auf seinen Roller. Seinen Nachbarn und dem Fahrer des Postautos, das gerade vorbeikommt, ruft er zu: „Schafft die Wagen in die Einfahrten.“
Koenig kann den Laster stoppen
Der Postbote schaut zunächst ungläubig. „Fahr deinen Bully hier raus“, ruft Koenig. Endlich reagiert der Mann. Sekunden später biegt der riesige Lkw erneut in seine Straße ein. Koenig ist klar: Er muss ihn aufhalten. Koste es, was es wolle. Denn gleich kommen die Kinder. Der Mechatroniker lässt den Lkw an sich vorbei, springt vom Roller und schwingt sich auf den Metallbügel, der eigentlich das Trittbrett trägt. Das jedoch ist bereits abgeschlagen. Koenig zieht an der Tür, aber diese ist verriegelt. Er sprintet zurück zu seinem Roller. Der Lkw überfährt derweil einen schweren Findling in einem Vorgarten, als wäre der Stein aus Pappmaschee. Dann biegt der Lkw-Fahrer wieder ab. Koenig fährt hinterher. Es gelingt ihm, den Koloss zu überholen. Als dieser erneut abbiegen will, drückt der Mechatroniker seinen Roller gegen einen Zaun und springt vom Zweirad auf die Sattelplatte zwischen Führerhaus und Auflieger. Er weiß: Hier hängen die Leitungen für das Druckluftbremssystem. Er packt den Bajonettverschluss, entriegelt ihn mit dem Daumen und dreht ihn um 180 Grad. Sofort sinkt der Druck in den Bremsleitungen – der Auflieger bleibt ruckartig stehen.
Erneut springt Koenig auf den Metallbügel am Führerhaus und reißt die nun unverriegelte Tür auf. „Aufhören jetzt! Sofort aufhören!“, schreit er den Fahrer an. Er hört, wie dieser immer wieder eine Zahl flüstert – wohl die von ihm gesuchte Hausnummer. Koenig zieht den Zündschlüssel ab, dann steigt er auf den Roller und fährt in seine Straße, um sich zu vergewissern, dass keinem der Kinder etwas geschehen ist. Anschließend kehrt er zum Lkw zurück. Dort steht mittlerweile ein Streifenwagen quer vor und einer hinter dem Fahrzeug. Der Fahrer ist ausgestiegen und absolviert widerstandslos einen Alkoholtest. Koenig erklärt den Beamten: „Das muss ein medizinischer Notfall sein. Ich habe keinen Alkohol gerochen. Aber der Mann ist trotzdem kaum ansprechbar.“ Kurz darauf trifft ein Rettungswagen ein. Später kommt noch ein Hubschrauber hinzu.
Was genau dem Fahrer des Lkw fehlte, weiß Stephan Koenig nicht. Die Polizei kann später nur bestätigen, dass die Rettungssanitäter vor Ort einen internistischen Notfall vermuteten. Seit jenem Tag wird Stephan Koenig in seiner Siedlung als Held gefeiert. Eine Ehre, die er von sich weist. „Ich habe doch nur an die Kinder gedacht“, erklärt er. „Und ich war immerhin der Einzige, der wusste, was zu tun war.“