Zum Wegwerfen zu schade!
Selina Juul erhält die Auszeichnung „Reader’s Digest Europäerin des Jahres 2020“ für ihren Einsatz gegen Lebensmittelverschwendung.

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Oktober 2019: Selina Juul sitzt im Saal der Kopenhagener Tivoli-Kongresshalle, als der ehemalige US-amerikanische Vizepräsident Al Gore die Bühne betritt. Er wird einen Vortrag über die Klimakrise halten. „Für unsere Generation ist das der Kampf um Leben und Tod“, verkündet er. Nur drei Fragen seien noch zu diskutieren: „Müssen wir uns ändern? Können wir uns ändern? Werden wir uns ändern?“ Für Juul haben Gores Worte eine besondere Bedeutung. Vor 14 Jahren veränderte sein Dokumentarfilm "Eine unbequeme Wahrheit" ihr Leben und regte sie an, ihrerseits zu versuchen, die Welt zu verändern. Vor Gores Rede hatte sie Gelegenheit, ihm das zu sagen und ihre Bewegung vorzustellen: "Stop Spild Af Mad" (stoppt Lebensmittelverschwendung), die in Dänemark schon viel bewirkt hat. Die gebürtige Russin Juul ist in ihrer Wahlheimat landesweit bekannt. „Es war für mich eine große Ehre, ihn kennenzulernen“, sagt Juul. Sie ist ein warmherziger, einfühlsamer Mensch, umarmt andere lieber, als ihnen die Hand zu schütteln, und spricht wortgewandt und leidenschaftlich über das Thema, das ihr so am Herzen liegt. Sie möchte erreichen, dass Lebensmittelverschwendung gesellschaftlich ebenso abgelehnt wird wie Rauchen in geschlossenen Räumen.
„Es macht mich sehr traurig, wenn die Leute Lebensmittel verschwenden“, erklärt sie. „Sie werfen nicht nur ihr Geld weg, sondern treiben Raubbau an Ressourcen. Heute hat fast eine Milliarde Menschen auf der Welt nicht genug zu essen, gleichzeitig werden aber so viele Nahrungsmittel weggeworfen oder verschwendet, dass davon zwei Milliarden Menschen satt werden könnten.“ Juul ist eine auffallende Persönlichkeit: ganz in Schwarz gekleidet und mit platinblondem Haar. Wenn sie spricht, gestikuliert sie, um die Dringlichkeit ihres Anliegens zu unterstreichen. „Gelingt uns das, haben wir damit eine Grundvoraussetzung für Weltfrieden geschaffen“, sagt sie. „Wenn jedes Kind, jede Frau und jeder Mann genug zu essen hat, werden viele Konflikte auf der Welt aufhören.“ Seit Juul 2008 "Stop Spild Af Mad" ins Leben gerufen hat, verringerte sich in Dänemark Schätzungen zufolge die Verschwendung von Lebensmitteln bereits um mehr als ein Viertel. Das ist ganz wesentlich ihrem Engagement zu verdanken.
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Das Leben als Food-Aktivistin ist stressig
Heute ist für sie wieder ein ganz normaler Tag in einer typischen, hektischen Woche, die mit einem Vortrag an einer Schule in Jütland beginnt. Später muss sie noch eine Reise in den Vatikan planen, wo sie zu einer Konferenz über Nahrungsmittelverschwendung eingeladen ist, und Vorbereitungen für ein Abendessen in der schwedischen Botschaft in Kopenhagen treffen. Geladen sind einflussreiche schwedische und internationale Entscheidungsträger. Ihnen wird eine Mahlzeit serviert, deren Zutaten vor dem Müll gerettet wurden. Das soll sie dazu anregen, Nahrungsmittelverschwendung auf die politische Tagesordnung zu setzen.
Für Selina Juul ist dieses „International Stop Wasting Food Dinner“ inzwischen ein alljährliches Ereignis. Enden soll die Woche in dem Verlag, in dem sie das erste Exemplar ihres neuen Buchs in Augenschein nehmen wird: Mad Med Respekt (etwa: Essen mit Respekt). Darin erklärt sie Familien, wie sie Lebensmittelverschwendung vermeiden können, und hat 80 restefreundliche Rezepte von verschiedenen bekannten dänischen und französischen Küchenkoryphäen zusammengestellt. Sogar ihre königliche Hoheit Prinzessin Marie, die Schwiegertochter der regierenden Monarchin Dänemarks, hat zu dem Buch beigetragen. Alle Beteiligten verzichten auf ein Honorar, und ein Anteil vom Buchumsatz fließt an die Hilfsorganisation DanChurchAid, um Kindern in Afrika zu helfen. Besonders freut sich Selina Juul über die Beteiligung der Prinzessin. „Sie ist wirklich nett, und sie ist mit dem Herzen bei der Sache“, schwärmt sie. „Prinzessin Mary ist eine großartige Botschafterin für die ganze Bewegung gegen Nahrungsmittelverschwendung.“
Kindheit in der Sowjetunion
In den vergangenen zehn Jahren hat Juul mehr als 200 Projekte angestoßen und damit viel bewirkt. Dabei hätte sie sich die Position, in der sie sich heute mit knapp 40 wiederfindet, zu Beginn ihrer Laufbahn als Grafikdesignerin nicht träumen lassen. „Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal so etwas machen würde“, sagt sie. „Weder komme ich aus der Lebensmittelbranche, noch bin ich Politikerin.“ Ihre Kindheit verbrachte Juul in der Sowjetunion. Ende der 1980er-Jahre wurde die sowjetische Gesellschaft liberaler, doch Russland und viele andere Staaten gerieten in eine Wirtschaftskrise. Selina Juul lebte mit ihren Eltern und Großeltern in einer Wohnung in Moskau und hat am eigenen Leib erlebt, welche Entbehrungen ein im endgültigen Niedergang befindliches System mit sich bringt. „Der Kommunismus brach zusammen, und plötzlich gab es in den Läden keine Lebensmittel mehr“, erinnert sie sich.
„Meine Oma kümmerte sich um den Haushalt“, fährt sie fort. „Ich weiß noch, wie sie sagte, wir dürften nichts verschwenden, weil wir nicht wissen konnten, ob wir am nächsten Tag etwas zu essen hätten. Das ist ein schreckliches Gefühl. Mehr als einmal kam meine Großmutter mit leeren Händen aus dem Laden zurück. Sie versuchte die vorhandenen Nahrungsmittel zu strecken, damit wir etwas auf dem Teller hatten. Sie ist meine größte Heldin.“ Die Lage verschlechterte sich so dramatisch, dass russische Familien Nahrungsmittelhilfe aus dem Westen bekamen. „Es war eigentlich nur Frühstücksfleisch“, berichtet Juul lachend. „Wir kannten uns nicht aus. Also dachten wir: ‚Wow, das ist Essen aus dem Westen – das muss gut sein!‘ Meine Oma sagte: ‚Wir müssen sparsam damit umgehen und es gut einteilen, es ist etwas besonders Köstliches.‘“
Welch gedankenloser Umgang mit Nahrungsmitteln!
Mit 13 Jahren zogen Selina Juul und ihre Mutter – eine Wissenschaftlerin – nach Kopenhagen, weil diese eine Stelle an der dortigen Universität erhielt. Als sie ihren Klassenkameraden die Geschichte vom Frühstücksfleisch erzählte, wollten die es gar nicht glauben. Juul wiederum war erstaunt als sie sah, wie gedankenlos ihre Freunde mit Nahrungsmitteln umgingen. „Ihre Eltern gaben ihnen Pausenbrote mit, die sie in die Mülltonne warfen, bevor sie zu McDonald’s gingen“, erinnert sie sich. Als Selina Juul das erste Mal einen dänischen Supermarkt betrat, war sie überrascht, wie viele Lebensmittel dort angeboten wurden. Und als sie später ein Praktikum in einer Bäckerei machte, schockierte es sie, dass jeden Abend säckeweise übrig gebliebenes Brot weggeworfen wurde. Nach dem Schulabschluss studierte Juul Journalismus und Grafikdesign. Später arbeitete sie freiberuflich als Illustratorin. „Dann sah ich den Film 'Eine unbequeme Wahrheit'“, berichtet sie, „und ich wachte auf.“
Juli 2008. An ihrem letzten Urlaubstag sitzen Selina Juul und ihr Freund Jakob in Kroatien auf der Terrasse ihres Hotels in der Küstenstadt Sibenik beim Abendessen. Es ist zwei Jahre her, dass Juul 'Eine unbequeme Wahrheit' gesehen und beschlossen hat, etwas zu unternehmen: Warum tut niemand etwas gegen die Verschwendung von Lebensmitteln? Immerhin ist die Nahrungsmittelproduktion der drittgrößte CO2-Erzeuger der Welt. „An jenem Abend war ich so aufgeregt, dass ich gar nicht einschlafen konnte“, erzählt Juul. Sie steht auf und skizziert ein Logo: rote und weiße Buchstaben auf einem schwarzen Quadrat. Am nächsten Tag liest sie in der Zeitung, dass jeder Däne pro Jahr im Durchschnitt 63 Kilogramm Nahrungsmittel wegwirft. „Das war ein Signal“, erklärt sie. Noch am selben Tag startet sie die Facebook-Gruppe "Stop Wasting Food". Innerhalb von zwei Wochen erregt Juul das Interesse der dänischen Medien und wird interviewt. Dann kommt ein Anruf von Anders Jensen, dem Einkaufs- und Marketingleiter von REMA 1000, der größten Discounterkette Dänemarks. „Ich hörte sie im Radio. Sie sprach von der großen Verantwortung des Einzelhandels“, erinnert sich Jensen. „Da rief ich sie an und fragte: ‚Was können wir tun?‘“
Die beiden trafen sich und waren sich schnell einig: „Es ist ein Wahnsinn, dass ein Drittel der weltweit produzierten Nahrungsmittel im Müll landet.“ Jensen sagte, er habe noch nie viel übrig gehabt für Mengenrabattaktionen nach dem Motto: Kaufe drei, zahle zwei. Er fand, das leiste der Verschwendung Vorschub. REMA 1000 gab bekannt, solche Angebote künftig nicht mehr zu machen. „Das schlug ein wie eine Bombe“, erzählt Jensen und lacht. „Alle unsere Konkurrenten fanden das verrückt.“ Ihm war klar, dass der Absatz in seinen Filialen dadurch anfangs zurückgehen würde. „Doch wir hofften, dass wir dadurch langfristig mehr Kunden gewinnen würden. Schließlich wirft niemand gern Nahrungsmittel weg. Glücklicherweise haben wir inzwischen mehr und zufriedenere Kunden. Vielleicht sind unsere Margen niedriger, aber wir verkaufen mehr. Es dauert etwas, bis sich die Menschen daran gewöhnen“, erklärt Jensen.
Für Selina Juul war das erst der Anfang.
In den zurückliegenden elf Jahren hat sie bewiesen, dass sie die Medien klug einzusetzen versteht. Sie hat Kampagnen gestartet, die die Menschen ansprachen, Supermärkte dazu gebracht, „hässliches Gemüse“ zu verkaufen, den Einsatz von Doggy Bags (Restetüten) in Restaurants gefördert und das sogenannte UFO-Konzept populär gemacht. UFO steht hier für „unbekanntes Frostobjekt“. Gemeint sind Essensreste, die viele Menschen für später einfrieren, aber dann vergessen und irgendwann entsorgen. Juul schlägt vor, jeden zweiten Monat eine „UFO-Woche“ durchzuführen und solche Reste zu verwerten. Aktuellen Zahlen zufolge werden in den EU-Ländern jedes Jahr 88 Millionen Tonnen Lebensmittel entsorgt. Seit zehn Jahren unternehmen einzelne Initiativen und Staaten etwas dagegen. In Deutschland beispielsweise wurde versucht, das sogenannte Containern zu entkriminalisieren, also das Einsammeln von Lebensmitteln aus den Müllcontainern von Supermärkten. In Frankreich sind Supermärkte inzwischen sogar gesetzlich verpflichtet, überschüssige Lebensmittel an wohltätige Organisationen und Tafeln zu spenden. Das hört sich zwar gut an, doch in der Praxis führt das Juul zufolge mitunter dazu, dass solche Organisationen mit Lebensmitteln überflutet werden, die keiner haben will. Zu Hause vermeidet Juul konsequent jede Verschwendung.
Trotz ihrer Popularität legt sie Wert auf den Schutz ihres Privatlebens. So umgänglich sie wirkt – nach eigener Aussage ist sie kein besonders kontaktfreudiger Mensch. Auf der Straße trägt sie eine Sonnenbrille, um nicht erkannt zu werden. Am liebsten sitzt Juul zu Hause, schreibt und zeichnet. „Was ich tue, verlangt einen hohen Einsatz von mir. Ich muss vor Tausenden Menschen sprechen. Das fällt mir schwer“, seufzt sie. „Ich brauche viel Zeit für mich, und ich kann nicht ständig unter Menschen sein.“
Und reich geworden ist sie durch ihre Kampagne gegen Lebensmittelverschwendung sicher nicht. In den ersten acht Jahren versuchte sie, ihre Arbeit und den Einsatz für ihr Anliegen unter einen Hut zu bringen und arbeitete oft bis spät in die Nacht. In letzter Zeit gehen genügend Mittel ein, sodass Juul sich ganz auf die Kampagne konzentrieren kann – doch das Geld reiche gerade so, um ihre Kosten zu decken, erklärt sie. Sie arbeitet mit den Vereinten Nationen, der EU und der dänischen Regierung zusammen, hält Vorträge, gibt Interviews und berät Unternehmen – meist kostenlos. „Ja, ich bin im ganzen Land bekannt. Ich bin im Fernsehen sehr gefragt, doch wenn es ums Geld geht …“ Sie zuckt die Achseln.
Selina Juul freut sich sehr über die Auszeichnung zur Reader’s Digest Europäerin des Jahres. „Ich fühle mich unglaublich geehrt“, sagt sie. „All die Wissenschaftler und Aktivisten, die vor mir ausgezeichnet wurden – das ist wirklich unglaublich. Ich hoffe, ich kann anderen ein Vorbild sein.“
Anders Jensen hält die Auszeichnung für absolut verdient. „Sie ist so ein positiver Mensch – wirklich inspirierend“, sagt er. „Bevor Selina aktiv wurde, hat in Dänemark niemand über Lebensmittelverschwendung gesprochen. Sie hat großen Einsatz gebracht, und inzwischen hören die Menschen auf sie. Das haben wir alles ihr zu verdanken.“