Angst vor Atemnot beeinflusste Kurts gesamtes Leben
Kurt (66) leidet unter plötzlichen Erstickungsanfällen mit Schwellungen der Atemwege. Eine Fallgeschichte aus dem Krankenhaus.

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Sein ganzes Erwachsenenleben hatte Kurt immer wieder Erstickungsanfälle. Das erste Mal war er gerade 20. Solch eine ungewöhnliche Schwellung mit Atemnot hatte er schon zuvor erlebt, allerdings nicht in diesem Ausmaß. Die Ärzte vermuteten eine allergische Reaktion und verabreichten ihm Antihistaminika, Kortikosteroide und Adrenalin. Dies half aber nicht. Im letzten Augenblick konnte sein Leben durch einen Luftröhrenschnitt gerettet werden.
Ein Jahr später kam es zu einem ähnlichen Anfall. Auch dieses Mal zeigten antiallergische Medikamente keine Wirkung, die Schwellung ging aber ohne chirurgischen Eingriff zurück. Daraufhin überprüften die Ärzte Kurts C1-Esterase-Inhibitor-Wert (C1-INH), ein Protein, das Flüssigkeitsansammlungen im Gewebe verhindert. Bei der äußerst seltenen Erkrankung Hereditäres Angio-Ödem (HAE) kommt es infolge einer Genmutation zu einem Mangel dieses Proteins. Nur einer von 50. 000 Menschen leidet an HAE. Bei Kurt war der C1-INH-Spiegel jedoch nicht niedrig, sondern erhöht.
40 Jahre lang immer wieder Erstickungsanfälle
Es vergingen mehr als 40 Jahre, in denen Kurt immer wieder als Notfall ins Krankenhaus musste. Als er bei einem besonders schweren Anfall blau anlief, kaum noch sprechen, geschweige denn Luft holen konnte, wurde erneut ein Luftröhrenschnitt vorgenommen. Es folgten weitere Krankenhausaufenthalte sowie Anfälle, die er zu Hause überstand. Kurt musste auf so manche Familienfeier verzichten, auch Urlaubsreisen waren undenkbar. Er hatte Angst, im Ernstfall nicht schnell genug ein Krankenhaus zu finden.
Der Fall gibt Rätsel auf
Die Spezialisten standen vor einem Rätsel. Sie rieten Kurt zu einer Eliminationsdiät, um eine Nahrungsunverträglichkeit auszuschließen, doch sie zeigte keine Wirkung. Erneut wurde sein C1-INH-Spiegel überprüft – er war immer noch erhöht. Im Jahr 2014 überwies ihn dann einer seiner Ärzte an Dr. Anette Bygum vom Universitätskrankenhaus Odense, die auf selten vorkommende Schwellungen spezialisiert ist. Bei Dr. Bygum, die Forschung zu HAE betrieb, läuteten sofort die Alarmglocken, als sie erfuhr, dass Kurts Anfälle gehäuft nach Zahnbehandlungen auftraten. Denn bei HAE-Patienten können Wunden starke Anfälle auslösen. „Ich dachte, seine Geschichte ist so eindeutig – er muss HAE haben“, erinnert sie sich. Dr. Bygum vermutete, dass bei Kurt eine seltene Variante namens HAE Typ II vorlag, die bei Beginn seiner Krankheit noch nicht bekannt war und unter dem nur 10 bis 15 Prozent aller HAE-Patienten leiden. Hierbei produziert der Körper zwar C1-INH, das Protein wirkt aber nicht richtig. Dr. Bygum testete daher Kurts C1-INH-Funktion – wie vermutet war sie schlecht. Eine Genanalyse bestätigte dann die Diagnose und identifizierte eine Mutation als Ursache. HAE kann nicht geheilt werden. Kurt trägt jetzt immer ein Fläschchen mit C1-INH-Konzentrat bei sich, so kann ein Arzt im Notfall das Protein injizieren oder über einen Tropf verabreichen.
Anfälle werden seltener nach einer Diagnose
„Er war sehr erleichtert“, erinnert sich Dr. Bygum. Das Risiko, von HAE-Patienten zu ersticken, ist ohne Diagnose drei- bis neunmal höher. Einige Ärzte warnen zudem davor, dass die Vernarbungen häufiger Luftröhrenschnitte weitere Eingriffe erschweren können. Seltsamerweise lebt Kurt seit seiner Diagnose vor fünf Jahren anfallsfrei. ,,Manchmal wird HAE im Alter schwächer“, erklärt Dr. Bygum. Da die Anfälle allerdings auch durch Stress ausgelöst werden können, gibt es möglicherweise noch eine weitere Erklärung: „Wir erleben oft, dass die Anfallshäufigkeit zurückgeht, nachdem wir den Patienten erklären, um welche Krankheit es sich handelt. Das nimmt ihnen die Angst.“