Innere Kraft aus schönen Erinnerungen schöpfen
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Wir wohnten in einer wunderschönen, einsamen Gegend. Das Haus war von Wäldern umgeben und die große Wiese davor ein bevorzugter Treffpunkt für allerlei Tiere, von Rotwild bis zu Jungfüchsen. Aber nach 17 Jahren wurde plötzlich unser Mietvertrag nicht mehr verlängert, und wir mussten umziehen.
Wir glaubten unser Leben lang trauern zu müssen. Aber eines Tages fragte mich meine Frau: „Erinnerst du dich noch, wie ein Reh auf unserer Wiese zwei Kitze zur Welt brachte?“ Und ich fragte zurück: „Erinnerst du dich noch an die Stinktiere, die im Mondlicht tanzten?“ Ganz ohne Absicht war unsere Wiese der Erinnerungen erblüht. Wir erfreuten uns an längst vergangenen Szenen, und uns wurde klar, wie glücklich wir uns schätzen mussten, all das erlebt zu haben. Es war der beste Weg, uns über unseren Verlust hinwegzuhelfen. Wir fanden Ciceros Wort bestätigt, dass die Erinnerung die Schatztruhe und der Wächter aller Dinge sei.
Die Wiesen, die in dem erstaunlichen Speicher namens Gedächtnis entstehen, können uns sogar helfen, mit schwierigen Situationen fertigzuwerden. Meine Frau und ich übernahmen eine Technik, mit der man Unannehmlichkeiten überbrückt, von einem Freund. Er griff, um seine Dialyse zweimal wöchentlich erträglicher zu machen, auf seine Erinnerungen zurück. Der Arzt hatte ihm geraten: „Machen Sie eine Gedankenpause. Das ist wie eine Kaffeepause; sie entspannt und beruhigt.“ So schloss unser Freund die Augen, während er an die künstliche Niere angeschlossen war, und spazierte in feinem Frühlingsregen durch die Straßen von Paris. Noch einmal entdeckte er voll Freude ein schönes antikes Stück, über dessen Wert sich der Inhaber des Geschäfts nicht im Klaren war. Noch einmal hörte er die Oper Aida, deren Musik ihn aus dem Krankenhauszimmer hinwegtrug.
Wie das Gedächtnis arbeitet oder wo genau im Gehirn die Erinnerungen aufbewahrt werden, ist noch nicht geklärt. Ganz gleich, wie geheimnisvoll das Gedächtnis sein mag, jedermann weiß, dass (...)
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