Die gefährliche Reise zur Hochzeit seiner Tochter
David möchte seine Tochter zum Traualtar führen – komme, was wolle. Dann bringt ein Hurrikan alles zum Erliegen.
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Wie gebannt saß David Jones vor dem Fernseher, als die Meteorologen über den Hurrikan Helene berichteten. Man erwartete, dass dieser am Donnerstagabend, dem 26. September 2024, mit Windgeschwindigkeiten von knapp 90 km/h auf Florida, USA, treffen und dann auf weitere Orte zusteuern würde, darunter Boiling Springs in South Carolina – Davids Wohnort. Gerade erst waren der 65-Jährige und seine Frau Debbie von Johnson City, Tennessee, hierhergezogen. Debbies Mutter ging es nicht gut, darum hatten sie in deren Heimatstadt ein Haus gekauft und sie bei sich aufgenommen. Nun bangte David, ob ihre vier Wände am nächsten Tag noch stehen würden. Zudem würde am Samstag seine älteste Tochter Elizabeth, 33, in Johnson City heiraten. David, der nach eigenem Bekunden ein lockeres Verhältnis zur Zeit pflegt, war angewiesen worden, pünktlich zur Kirche zu kommen. Also hatten er und Debbie beschlossen, schon am Freitag die zweistündige Fahrt anzutreten und in ihrem alten Haus zu nächtigen. Am Samstag würde er um Punkt zehn Uhr in der Kirche sein, um Elizabeth zum Altar zu führen.
Dann kam der Wirbelsturm Helene.*
Starke Böen erschütterten am Freitag ab fünf Uhr morgens das Haus der Jones’. Sieben Stunden lang hörte David zu, wie der Regen auf das Dach prasselte und der starke Wind Äste abknickte. Dann klarte der Himmel auf. Strom- und Mobilfunknetz waren ausgefallen, aber es gab keine größeren Schäden. Um 18 Uhr war der Strom noch nicht wiederhergestellt. Debbie entschied, unter diesen Umständen bei ihrer Mutter zu bleiben. David packte das Auto, gab seiner Frau einen Abschiedskuss und fuhr auf die vierspurige Schnellstraße Richtung Johnson City. Im Wagen hörte er einen Satelliten-Radiosender mit sanftem 1970er-Jahre-Rock und dachte an den Tag, an dem Elizabeth geboren worden war. Sein kleines Mädchen im Kopf, konnte er nicht anders, als sich zu fragen: „Bin ich ein guter Vater gewesen? Weiß Elizabeth, dass sie immer auf mich zählen kann?“
Die Autos fuhren langsam, während Einsatzkräfte umgestürzte Bäume von der Straße räumten. Um 22.30 Uhr – nach viereinhalb Stunden – hatte David keine 25 Kilometer zurückgelegt.
Er wollte auf das Lenkrad einschlagen, sagte sich aber, er solle ruhig bleiben. Als Berater hielt er Seminare über Hartnäckigkeit, Mut und Entschlossenheit angesichts extremer Widrigkeiten. Nun musste er das, was er predigte, selbst in die Praxis umsetzen. „Die Hochzeit findet morgen statt. Ich kann niemanden informieren, dass ich festsitze. Ich muss einen Weg finden.“ David zwang sich, sich zu konzentrieren und an Elizabeth zu denken. „Ich werde dort sein, denn das ist es, was ein Vater tut.“
Er schmiedete einen Plan. Da er davon ausging, dass sich die Einheimischen auskannten, folgte er einer Gruppe von Autos, die von der I-26 abfuhren. Die Karawane schlängelte sich um umgestürzte Bäume und über Stromleitungen. Der Plan schien zu funktionieren – bis alle zum Stehen kamen. Ein massiver Baum versperrte den Weg. David blickte zurück und überlegte, ob er sein Glück mit der Fahrt über die umgestürzten Stromleitungen noch einmal auf die Probe stellen sollte. Er hatte keine Wahl. Als er sah, dass sich die Autos auf der Interstate wieder bewegten, nahm er die Auffahrt. Doch in Tennessee stieß er auf eine weitere Sperre und musste die Straße erneut verlassen.
Da er jahrzehntelang in diesem Bundesstaat gelebt hatte, erinnerte David sich an eine zweispurige Landstraße irgendwo in der Nähe. Er fand sie und fuhr eine Schleife, die über Nebenstraßen zu einer anderen Auffahrt führte. Nach ein paar weiteren Kilometern auf der Interstate gelangte er an ein Schild mit der Aufschrift „Straße gesperrt“.
Am Ende der Ausfahrt entdeckte er Polizisten, die die Auffahrt auf der anderen Straßenseite mit ihren Auto blockierten. David parkte seinen Geländewagen auf dem Seitenstreifen und ging hinüber.
„Können wir Ihnen helfen, Sir?“
„Ich versuche, nach Johnson City zu kommen.“
„Das geht nicht. Die Interstate ist gesperrt.“
„Können Sie mich drauf lassen? Ich kann um die umgestürzten Bäume herumfahren. Das habe ich schon die ganze Nacht gemacht.“
„Wir lassen niemanden auf die Interstate.“
„Meine Tochter heiratet in Johnson City. Ich führe sie zum Traualtar.“
„Es tut mir leid. Die Brücken sind weggespült. Da kommt keiner durch.“
„Was ist mit den Nebenstraßen?“
„Einige sind ebenfalls unterspült worden. Das Beste, was Sie tun können, ist, zurück zu Ihrem Auto zu gehen. Warten Sie bis zum Morgen. Vielleicht ist die Interstate bis dahin wieder offen.“
David schüttelte den Kopf. „Ich muss meine Tochter zum Traualtar führen.“
David stieg in seinen Wagen und überlegte sich eine neue Strategie: zurück nach Boiling Springs, rüber nach Charlotte, hoch nach Wytheville, Virginia, rüber nach Bristol, runter nach Johnson City. „Ungefähr eine siebenstündige Fahrt. Wenn alles gut geht, schaffe ich es vielleicht noch rechtzeitig zur Kirche.“
Drei Kilometer weiter schaute er auf die Anzeige des Tanks. Beinahe leer. Er fuhr zurück und stellte fest, dass die Polizisten verschwunden waren, stattdessen stand dort ein Zivilist mit seinem Auto. David erfuhr, dass der Mann sich bereit erklärt hatte, die Auffahrt zu blockieren, damit sich die Beamten um dringendere, sturmbedingte Probleme kümmern konnten.
David klärte den Mann über seine Situation auf. Nach einigem Nachdenken sagte dieser, dass eine nahe gelegene Straße nach Erwin führe, eine Kleinstadt etwa neun Kilometer südlich von Johnson City. Von dort aus wäre die Interstate bis nach Johnson City offen.
„Wenn ich es auf diese Straße und bis Erwin schaffe, könnte ich den Rest des Weges wahrscheinlich auch zu Fuß zurücklegen, wenn ich muss“, dachte David laut. Doch der Mann machte seine Hoffnungen zunichte: „Ich habe gehört, dass drei Brücken unterspült wurden. Eine soll noch stehen, aber die Behörden lassen niemanden hinüber, weil sie instabil sein könnte.“ „Einen Versuch ist es wert“, befand David. Zurück in seinem SUV überprüfte er den Empfang seines Handys. Nichts. Er steckte es in die Tasche. Den neuen Hochzeitsanzug, das Hemd, die Krawatte sowie die Schuhe brauchte er nicht. Kleidung gab es in seinem Haus in Johnson City. Nicht neu und schick, aber gut genug.
Er stopfte sein Rasierzeug, Socken und Unterwäsche in den Rucksack, schloss den Wagen ab und nahm eine Bestandsaufnahme vor. Er trug alte Laufschuhe, Cargoshorts, ein langärmeliges Anglerhemd, eine Windjacke und eine Baseballkappe. Nicht gerade kampftauglich, aber es half, dass er in guter körperlicher Verfassung war und mehrmals pro Woche rund acht Kilometer joggte.
Er ging auf den Freiwilligen zu, der das Autofenster herunterkurbelte.
„Ich mache mich auf den Weg.“
„Viel Glück!“
Es war 2.15 Uhr und so dunkel, dass David nur ein paar Meter weit sah. Er holte sein Handy heraus – der Akku war noch geladen – und schaltete die Taschenlampe ein. Er war entsetzt über das, was er nun erblickte: Die Straße war mit dickem Schlamm und abgebrochenen, scharfen Ästen bedeckt. Er würde sich vorsichtig bewegen müssen. Aus Sorge vor Bären, Stinktieren und Hofhunden schnappte er sich einen Ast. Dann fuhr ein Streifenwagen an David vorbei, kam zurück und hielt. Der Fahrer rief: „Sind Sie sicher, dass Sie hier draußen sein wollen?“
„Meine Tochter heiratet in Johnson City. Ich führe sie zum Traualtar.“
Ein Beamter auf dem Beifahrersitz meldete sich zu Wort. „Wenn Sie zum Fuß des Hügels und auf die Interstate gelangen, könnten Sie es schaffen. Die Straße ist für Autos gesperrt, also sollte sie für Sie frei sein.“
Mit jedem Schritt wurde der Weg tückischer. Baumstämme ragten aus dem Schlamm, in dem der Senior bis zu den Knöcheln versank. Wenn er stürzte, könnte ihn ein scharfer Ast verletzen, er wäre hilflos in der Dunkelheit. Irgendwann nach drei Uhr morgens sah er die Lichter einer Planierraupe und eines Baggers, die die Straße räumten. Er ging auf den Fahrer der Planierraupe zu. Dieser schaute überrascht und rief: „Die Straße ist völlig blockiert.“
„Meine Tochter wird in Johnson City heiraten. Ich führe sie zum Traualtar“, erklärte ihm David.
„Lass mich den anderen anfunken und sehen, ob ich ihn dazu bringen kann, kurz anzuhalten.“
Als der Bagger zum Stillstand kam, huschte David vorbei. Weiter oben auf der Straße hielt ihn eine Wand aus Schutt auf, die über die Ränder der Straße hinausragte. Er schätzte, dass sie mindestens drei Meter hoch war – ein Gewirr aus schlammverkrusteten Bäumen, Sträuchern, Zäunen und Pfählen. Er wählte eine Seite, um sie zu umrunden, doch er wurde in den Schlamm gesogen und fiel in eine sitzende Position. David versuchte, sich zu bewegen, konnte es aber nicht.
Hinter ihm, etwa 15 Meter entfernt, machte sich der Bagger wieder an die Arbeit. Ein helles Licht am Ende des Maschinenarms durchbrach die schwarze Nacht wie der Strahl eines Leuchtturms. „Er kann mich nicht sehen“, überlegte David erschrocken. „Er wird nicht wissen, dass ich hier bin, bis der Arm mich trifft.“
Mit aller Kraft zog er langsam seine Beine aus dem Schlamm. Dabei verlor er einen Schuh, fand diesen tief im Schlamm wieder und warf ihn auf die andere Seite des Trümmerhaufens.
Das Rumpeln des Baggers wurde lauter, als der Lichtstrahl näher kam.David entdeckte eine Öffnung in dem Geröllhaufen, die gerade groß genug schien, um mit dem Rucksack hindurchzukriechen. Er kämpfte sich durch den dunklen Schlamm, schmiegte sich an einen massiven Baumstamm wie ein Koala. Mit seinen Armen zog er seinen Körper tiefer in das Loch, als würde er schwimmen. Die feuchte, fetthaltige Luft nahm ihm den Atem.
Während er sich durch das Geröll kämpfte und der Bagger auf ihn zukam, bebte und zitterte der Hügel, als ob er einstürzen und ihn lebendig begraben würde. Dann endlich spürte er eine kühle Brise, die aus einer kleinen Öffnung kam. Er schob, zog und trat sich durch die Trümmer, bis er kopfüber auf den Boden fiel.
Im Gehen schnitten kleine scharfe Steine durch die nasse Socke an seinem rechten Fuß, bis er seinen Schuh wiederfand. Er schlüpfte hinein und ging so schnell, wie es der klebrige Schlamm zuließ, wobei es zwei weitere Geröllhaufen zu bewältigen galt.
Schließlich fand David die Auffahrt, von der ihm die Beamten erzählt hatten. Kein Verkehr. Nur Schlamm und umgestürzte Bäume.
Er lief, bis er Wasser rauschen hörte, richtete die Taschenlampe seines Handys auf die unterspülte Brücke und spähte vorsichtig in den Abgrund. Etwa zehn Meter unter sich erkannte David Beton und verbogenes Metall. Von hier aus hatte er keine Chance, auf die andere Seite zu gelangen.
Ein Blick auf die Uhr: vier Uhr morgens. In sechs Stunden musste er an der Kirche sein. David schätzte, dass er gut 30 Kilometer von seinem Haus in Johnson City entfernt war. Einmal mehr zwang er sich, logisch zu denken. Der Freiwillige hatte ihm erzählt, dass eine Brücke noch stand, aber man diese nicht passieren dürfe, weil sie eventuell instabil wäre. Könnte es hier in der Nähe noch eine andere Brücke geben, die nicht an der Interstate liegt?
Müde und hungrig musste er die körperliche wie geistige Kraft für einen letzten Versuch aufbringen. Als seine Töchter noch klein waren, hatten sie ihm den Spitznamen „Kamel“ gegeben. Auf langen Fahrten hatte er nie das Bedürfnis, etwas zu essen oder zu trinken. Nun stapfte das Kamel eine Ausfahrtsrampe hinunter. Sollte es links oder rechts abbiegen? David vertraute seinem Bauchgefühl und bog links ab. Und da, rund eineinhalb Kilometer entfernt, stand sie: die Jackson Bridge über dem Nolichucky River.
Zwei Streifenwagen blockierten die Auffahrt, aber er sah niemaden. Das war seine Chance. Er sprintete hinüber.
Auf der anderen Seite: Scheinwerfer. Ein Polizeiauto hielt neben David. „Sind Sie derjenige, der versucht, zur Hochzeit seiner Tochter zu kommen?“
„Woher wussten Sie das?“
Der Fahrer grinste. „Wir reden alle über Sie. Wollen Sie mitfahren?“
Der Polizist konnte David bis nach Erwin mitnehmen. Er setzte ihn gegen fünf Uhr morgens am Rathaus ab. David war jetzt noch etwa neun Kilometer von seinem alten Zuhause entfernt. Er begann wieder zu laufen. Ein paar Minuten später hielt ein Pick-up an, und der Fahrer bot dem Übernächtigten an, ihn mitzunehmen. 15 Minuten später stand David vor seinem Haus.
Der Brautvater hatte seit mehr als
27 Stunden nicht geschlafen und wusste, dass er ohnmächtig würde, wenn er
sich auf das Bett legte oder auch nur auf einen Stuhl setzte. Am besten, er duschte und machte sich fertig. David schaute in den Spiegel: Sein Haar sah aus wie eine Gruselperücke. Er war mit Schlamm bedeckt, hatte Schnitte und blaue Flecken. Eine warme Dusche wäre willkommen gewesen, aber ohne Strom musste er sich mit einer eiskalten begnügen. Das machte ihn wach.
Aus seinem Schrank holte David einen Anzug, Hemd, Krawatte und Schuhe. Draußen startete er den alten Pick-up, den er sonst zum Transportieren von Dingen benutzte, und fuhr damit zur Kirche.
Als er seine beiden jüngeren Töchter fand, berichtete er ihnen, was geschehen war. „Sagt Elizabeth nichts davon“, bat er die zwei. „Wir haben nachher Zeit. Das soll ihr Moment sein.“
Dann tippte ihm jemand auf die Schulter. Er drehte sich um. Es war Elizabeth. Sie sah wunderschön aus in ihrem weißen Hochzeitskleid.
Er konnte nicht anders und brach in Tränen aus.
Die Braut schloss ihren Vater in die Arme. Dann überreichte sie ihm einen kleinen rautenförmigen Aufkleber: ein Foto von ihnen beiden bei einem Vater-Tochter-Tanz, als sie neun Jahre alt war. Sie wollte, dass David es auf seiner Krawatte trug, nah an seinem Herzen. Er blickte auf das Bild des Kindes, und auf die Frau, die vor ihm stand. Er war überwältigt von der Reise, die er gerade hinter sich gebracht hatte, aber auch von der Zeit, die vergangen war, von der Kostbarkeit des Lebens und der Liebe.
Seine Schwester kam hinzu und fragte ihn verwundert: „Was hast du da im Ohr? Es sieht aus wie Schlamm.“ David lächelte. Ein Andenken an seine Reise.
Aus dem Inneren der Kirche schwoll die Musik an. David nahm Elizabeths Arm, lächelte stolz und tat, was er sich 16 Stunden zuvor vorgenommen hatte: Er führte sie zum Traualtar.
*Hurrikan Helene richtete Ende September 2024 in den US-Bundesstaaten Florida, Georgia, North Carolina, South Carolina und Tennessee starke Verwüstungen an. Durch den Sturm und seine Folgen starben mehr als 240 Menschen. Schätzungen zufolge richtete der Sturm Schäden in Höhe von 30 bis 50 Mrd. US-Dollar an.






