Ein Eisbär greift an

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Die Anzeige in der Zeitschrift Sierra versprach ein Abenteuer der Extraklasse: eine 14-tägige Trekkingtour durch die nordkanadische Wildnis, Eisbären-Spotting inklusive. "Träumen Sie von einer unberührten Welt voller Zauber und Legenden, in der die Eisbären zu Hause sind? Dann ist diese Reise genau das Richtige für Sie!", warb der Anzeigentext. Zwei erfahrene Trekkingführer würden die Gruppe begleiten: Rich Gross, 60, der für eine Wohnungsbaugenossenschaft in San Francisco arbeitet, aber ein- bis zweimal im Jahr Wandergruppen durch entlegene Landschaften führt. Und die Ärztin Marta Chase, 59, aus dem US-Bundesstaat North Carolina, die seit dem Studium Erfahrung als Wanderführerin gesammelt hat. Zusammen hatten die beiden schon 13 Gruppen geleitet.
Fünf Teilnehmer aus den USA meldeten sich an: Larry Rodman, ein 63-jähriger Wirtschaftsanwalt, die Sportwissenschaftlerin Marilyn Frankel, 65, Rick Isenberg, ein 55-jähriger Forscher und ehemaliger Arzt, Chases Ehemann Kicab Castañeda-Mendez, 63, Unternehmensberater, und Matt Dyer, ein 48-jähriger Rechtsanwalt. Die Tour durch den Nationalpark Torngat Mountains in Kanadas Tundraregion war Gross' Idee gewesen. Er hatte noch nie einen Eisbären in freier Wildbahn gesehen. Die Landschaft mit ihren schroffen, die Küste der Labradorsee überragenden Gipfeln reizte ihn. Nur einige Hundert Menschen besuchen den Nationalpark jedes Jahr. Obwohl ihr die Route gefiel, hatte Marta Chase Bedenken, durch ein Eisbärengebiet zu wandern.
Eisbären sind die größten Landraubtiere der Erde
Sie stehen an der Spitze der arktischen Nahrungskette. Ein ausgewachsener Bär kann bis zu 800 Kilogramm schwer werden und sich zu einer Höhe von drei Meter aufrichten. Die Tiere halten sich überwiegend auf dem Packeis auf, wo sie an Eislöchern Robben auflauern. Um Menschen machen Eisbären in der Regel einen Bogen. Nach Meinung mancher Forscher könnte sich dies jedoch bald ändern: Im Sommer sind die Torngatberge wie viele Gebiete der südlichen Arktis überwiegend eisfrei, wodurch die Fleischfresser gezwungen sind, an Land zu gehen und von ihren Fettreserven zu leben. überall auf der Welt steigen die Temperaturen infolge des Klimawandels, wobei sich die Arktis doppelt so schnell erwärmt wie andere Erdregionen. Deshalb werden die Hungerzeiten der Eisbären immer länger. Während Ende der 1970er-Jahre die Zahl der eisfreien Tage in der Torngat-Region bei 125 pro Jahr lag, sind es mittlerweile schon 175. Die Bären fressen dann Gänseeier, Gräser, Beeren und was sie sonst noch finden. Aufgrund der längeren Sommer und des Eisrückgangs kommen die Eisbären auch häufiger mit Menschen in Berührung – die Gefahr tödlicher Begegnungen steigt. Denn für einen ausgehungerten Eisbären ist ein Mensch letzten Endes nichts anderes als Nahrung.
Anflug per Wasserflugzeug
Ein Wasserflugzeug brachte die Wandergruppe am 21. Juli 2013, einem Sonntag, in die Torngatberge. Die Landschaft war atemberaubend: Glasklare Seen, hier und da mit Eis bedeckt, lagen verstreut zwischen hohen Gipfeln, von denen Schmelzwasserbäche ins Tal stürzten. Das Flugzeug landete auf dem Nachvak-Fjord, die sieben Passagiere stiegen aus, und der Pilot hob allein wieder ab. Die Truppe begann damit, etwa 150 Meter vom Ufer entfernt ihr Lager aufzubauen. Auf der kanadischen Nationalparkwebsite wird Besuchern "dringend empfohlen", für Ausflüge und Expeditionen einen Inuit-Bärenführer anzuheuern. Diese haben eine besondere Ausbildung absolviert und tragen Schusswaffen. Chase und Gross vertrauten jedoch dem Betreiber eines lokalen Ausrüstungsgeschäfts, der ihnen versichert hatte, mit Leuchtpistolen, Pfefferspray und Elektrozäunen seien sie ausreichend geschützt. Sie zogen einen Elektrozaun um die Zelte und einen weiteren um den Bereich, in dem sie kochen und ihre Lebensmittel lagern würden. Die Zäune waren jeweils 90 Zentimeter hoch. Der Stromschlag würde einen Eisbären nicht verletzen, aber ihn in die Flucht schlagen – zumindest glaubten sie das. Während die Wanderer das Abendessen zubereiteten, kreisten Seeschwalben und Möwen über ihnen. Hin und wieder sahen sie in der Ferne auch Wölfe vorbeilaufen. Als die Dämmerung gegen 22.30 Uhr hereinbrach, hatten sich alle in ihre Zelte zurückgezogen.
Eisbären in Sicht!
Um vier Uhr trat Castañeda-Mendez aus seinem Zelt und stellte fest, dass sie nicht allein waren. "Am Strand sind Eisbären!", rief er. Eine Eisbärenmutter lief mit ihrem Jungen im frühen Morgenlicht am Ufer entlang. Die anderen Wanderer kamen aus ihren Zelten. Sie waren in Rufweite zweier Raubtiere, die zu den gefährlichsten der Welt zählen, und doch hatte die Szene etwas Friedliches an sich. Dyer stiegen Tränen in die Augen. Nach dem Frühstück packten die Abenteurer ihre Tagesrucksäcke und brachen zu einer Wanderung rund um den Fjord auf. Gross trug die eine Leuchtpistole am Gürtel, Chase die andere. Durch Weidengestrüpp und über grasbedeckte Hügel kletterte die Gruppe an den Felsvorsprüngen oberhalb ihres Lagers entlang. Sie entdeckten Schwarzbärenkot, Karibugeweihe und den Schädel eines Wolfes oder Seehundes. Dyer brach einen Zahn aus dem Schädel heraus und steckte ihn in die Tasche.
Gegen 15.30 Uhr kamen sie an einen kleinen Wasserlauf in der Nähe ihres Camps. Sie zogen die Stiefel aus, um barfuß durch das flache, klare Wasser zu waten und ihre Füße nach der langen Wanderung darin zu kühlen. Castañeda-Mendez war der erste in dem eiskalten Bach, als Dyer den Eisbären bemerkte, der auf sie zukam. "Vorsicht, ein Eisbär!", rief er. "Komm zurück!" Das Tier war etwa 150 Meter entfernt und lief in ihre Richtung. Es wirkte größer und hatte ein dichteres Fell als das Weibchen, das sie am Morgen beobachtet hatten. Die Wanderer versuchten mit Drohgebärden und lauten Geräuschen den Eisbären zu verjagen. Doch der Bär kam zielstrebig immer weiter heran. Gross zog seine Leuchtpistole aus dem Gürtel. Er feuerte sie ab, als das Tier nur noch 50 Meter von ihnen entfernt war. Der Leuchtsatz hielt den Eisbären jedoch nicht davon ab, sich der Gruppe weiter zu nähern. Erst, als das Geschoss unmittelbar vor seinen Füßen landete, ergriff er die Flucht. Die Gruppe jubelte und klatschte, aber der Bär lief nicht weit. Er ließ sich knapp 300 Meter entfernt auf einem Felsvorsprung nieder, von wo aus er das Camp im Blick hatte.
Starker Regen hatte eingesetzt, als die Wanderer ins Camp zurückkehrten. Die meisten verzogen sich in ihre Zelte, aber Dyer traute dem Frieden nicht. Er harrte vor dem Zelt aus und beobachtete den Eisbären eine Stunde lang, bevor auch er sich hinlegte. Aus dem Nachmittag wurde Abend, und der Eisbär war noch immer da. Um 17 Uhr gingen die Wanderer in den Kochbereich. Durch die Objektive ihrer Kameras beobachteten sie, wie sich der Eisbär auf den Rücken rollte. Frankel verglich ihn mit einem Hund. Während des Abendessens lachten die Wanderer und erzählten einander Anekdoten von früheren Reisen. über den Bären, der sie beobachtete, redeten sie kaum. Castañeda-Mendez fühlte sich nach den zwei Begegnungen sicherer. Die Mutter mit ihrem Jungen hatte sie nicht beachtet, und der Bär am Nachmittag war vor der Leuchtpistole zurückgeschreckt. Aber Dyer wurde sein Unbehagen nicht los. "Vielleicht sollte einer von uns Wache halten", schlug er vor. "Dafür haben wir doch den Elektrozaun", antwortete Gross beschwichtigend. In dieser Nacht schlief Isenberg unruhig. Jedes Mal, wenn er aufwachte, hielt er nach dem Bären Ausschau, der sich nicht von der Stelle gerührt hatte. Erst gegen ein Uhr verschwand das Tier plötzlich.
Der Angriff
Der nächste Tag begann kalt und verregnet. Trotzdem packten die Wanderer ihre Rucksäcke und gingen erneut auf Tour. An diesem Morgen konnten sie gleich mehrere Tiere beobachten. Im Fjord sahen sie Wale, außerdem erspähten sie ein Karibu und ein Schneehuhn. Gegen Nachmittag wurde das Wetter besser, und sie hielten an einem Felsen oberhalb ihres Lagers an, um Schnappschüsse voneinander zu machen. An diesem Abend prüfte Gross vor dem Schlafengehen noch einmal den Elektrozaun, der das Camp umgab. Bevor er in den Schlafsack kroch, steckte er die Leuchtpistole in seinen Stiefel. Das Rauschen der Brandung ließ ihn einschlafen. Um halb vier wurde er durch Schreie geweckt. Durch das Zeltfenster machte Chase einen Eisbären in wenigen Metern Entfernung aus. Der Bär stand auf allen Vieren, seine Augen waren auf einer Höhe mit ihr. "Rich!", schrie Chase. Der Eisbär zerrte am benachbarten Zelt und riss es mit sich. Gross hatte nach seiner Leuchtpistole gegriffen und war nach draußen gelaufen, wo er auf den Bären zielte. Das Tier war etwa 20 Meter entfernt. Etwas baumelte aus seinem Maul. Gross begriff, dass es kein Gegenstand war, den der Eisbär davontrug, sondern ein Mensch – Dyer. Matt Dyer war wenige Sekunden zuvor wach geworden. Während er sich noch die Augen rieb, nahm er im Mondschein die Schatten von zwei riesigen Tatzen wahr. "Im Camp ist ein Bär!", schrie er. Der Eisbär biss den Mann in den Kopf und schleifte ihn aus dem Zelt. Dyer hörte, wie sein Kiefer brach, als der Eisbär mit seinen riesigen Zähnen seinen Kopf packte.
Dyer konnte auf den weißen Bauch und die gelben Flecken am Hinterteil des Bären starren, während er fortgeschleift wurde. Seltsam teilnahmslos stellte er fest, dass er eine Socke verloren hatte. Dann hörte Dyer die Schreie seiner Kameraden. Der Bär drehte sich für einen Moment um. Ohne seinen Biss zu lockern, begann das Tier, auf das Ufer zuzulaufen. Früher hatte Dyer sich manchmal gefragt, wie es sich anfühlen mochte zu sterben, und versucht, sich die letzten Augenblicke kurz vor dem Tod vorzustellen. Und jetzt empfand er statt Angst eine große innere Ruhe. Während sein Kopf noch immer im Maul des Eisbären gefangen war, nahm er plötzlich einen Lichtblitz war. Der Bär ließ ihn fallen und flüchtete. Dyer stand unter Schock und verspürte kaum Schmerzen. Gross und Isenberg entdeckten 20 Meter vom Lager entfernt den blutüberströmten Körper von Dyer. Zuerst glaubten sie, er wäre tot. Doch als Isenberg sich neben ihn kniete, sah er, dass Dyer atmete. Castañeda-Mendez und Rodman kamen herüber, und die vier Männer trugen Dyer zurück zum Camp, wo sie ihn mit Schlafsäcken zudeckten. Gross und Castañeda-Mendez bauten das Kochzelt um den Schwerverletzten herum auf, um ihn vor dem Wind zu schützen.
Gerettet!
Isenberg kümmerte sich um Dyers Verletzungen. Er hatte aber nur eine kleine Reiseapotheke mit Kompressen, einer Mullbinde, Wundsalbe, Erste-Hilfe-Schienen und einer Schere zur Verfügung. Dyers Gesicht war geschwollen und sein Kiefer ausgerenkt, er konnte aber noch sprechen. "Danke", stöhnte er immer wieder. Isenberg schnitt Dyers blutdurchtränkte Haare ab. Gesicht und Kopf waren mit Bisswunden bedeckt, aus denen Blut sickerte, aber nicht quoll – ein gutes Zeichen. Die größte Verletzung war ein tiefer Riss am Hals, der aussah, als wäre er mit einer Rasierklinge zugefügt worden. Isenberg konnte die Halsschlagader sehen, die Arterie war zum Glück unverletzt. Isenberg machte sich große Sorgen. Dyer befand sich in einem lebensbedrohlichen Zustand, und Hilfe war Hunderte Kilometer entfernt. Unterdessen rief Chase über das Satellitentelefon den Rettungsdienst an. Um 3.45 Uhr erreichte sie eine Leitstelle der Polizei und schilderte, wie die Reisegruppe von einem Eisbären angegriffen worden war. Das Gebiet lag in dichten Nebel gehüllt, und bis dieser sich lichtete, war eine Rettung unmöglich. Der Elektrozaun war zerstört. Mit der Leuchtpistole patrouillierte Frankel um das Camp. Castañeda-Mendez und Rodman hielten mit der anderen Leuchtpistole ebenfalls Wache. Gross war neben dem Kochzelt geblieben, um Isenberg zu helfen.
Um 8.30 Uhr löste sich der Nebel auf. Wenige Minuten später hörte die Gruppe Hubschrauberlärm. Der Helikopter landete, und ein Rettungsassistent sprang heraus. Gemeinsam mit den Wanderern trug er Dyer zum Hubschrauber. Isenberg stieg ebenfalls ein, während der Rest der Gruppe auf ein Boot wartete, das sie abholte. Gut 20 Stunden nach der Eisbärenattacke wurde Matt Dyer schließlich in das Krankenhaus von Montreal eingeliefert. Er hatte zwei Wirbelfrakturen und einen zertrümmerten Kiefer. Seine linke Hand war mehrfach gebrochen. Außerdem hatte er eine Lungenverletzung erlitten sowie ein Dutzend Wunden, darunter die Verletzung am Hals.
Im Krankenhaus
Am 27. Juli besuchten Gross und Chase ihren Kameraden im Krankenhaus. Ein Atemschlauch hinderte ihn am Sprechen, aber jemand hatte Dyer eine Buchstabentafel gegeben, mit deren Hilfe er eine Frage buchstabierte: Ob sie Lust hatten, ihn nach Hause zu begleiten und Hummer zu essen? Es war ein Beispiel für seinen trockenen Humor, der ihn bei der Gruppe beliebt gemacht hatte. Matt Dyer erholte sich von seinen Verletzungen, auch wenn die Narben im Gesicht und am Hals ihn stets an den Bären erinnern. Ein Jahr nach dem Vorfall fragten ihn Journalisten, ob er mit ihnen eine Woche lang die Torngatberge besuchen wolle. Dyer zögerte keine Sekunde. Er wollte den Nationalpark seiner Schönheit wegen in Erinnerung behalten und nicht wegen der Eisbärenattacke. Im August 2014 kehrte Dyer in Begleitung von zwei bewaffneten Inuit zu der Stelle zurück, wo die Gruppe gezeltet hatte. Wenige Minuten später sah er den ersten Eisbären, und im Laufe der nächsten Tage konnte die Gruppe weitere Bären beobachten. Doch statt Furcht zu empfinden, war Dyer von Frieden erfüllt.