Menschen

Autor: Peter Hill

Ein (fast) perfekter Mord

In einer verschlafenen neuseeländischen Kleinstadt gelingt einem Psychologen ein (fast) perfekter Mord.

© Zffoto / Fotolia

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Kurz vor Sonnenaufgang wurde Dr. Andrew Bowers vom Klingeln des Telefons aus dem Schlaf gerissen. Die Stimme des Anrufers klang unbeteiligt: "Sie ist tot." Bowers, Internist am Dunedin-Hospital auf der Südinsel Neuseelands, war zwar noch nicht richtig wach, wusste aber sofort, wer anrief. Die Stimme Colin Bouwer, einem südafrikanischen Psychiater. Dessen Frau Annette hatte oft im Krankenhaus gelegen, seit sie sechs Wochen zuvor im Zuckerkoma erstmals eingeliefert worden war.

Dr. Bowers war Annette Bouwers Arzt gewesen – ein sehr ratloser Arzt. Ein Zuckerkoma wird in der Regel durch Medikamente ausgelöst, die den Zuckerspiegel senken. Doch die 47-Jährige war nicht zuckerkrank, und bei Blutuntersuchungen wurden keine Spuren von Diabetesmedikamenten entdeckt. Nach einem zweiten Koma hatte Dr. Bowers in Erwägung gezogen, sie könne an einem seltenen insulinproduzierenden Tumor leiden, doch die Testergebnisse waren nicht eindeutig. Daraufhin ordnete Dr. Bowers eine Operation an, um ein Stück der Bauchspeicheldrüse zu entnehmen und nach einem Tumor zu suchen. Annette Bouwers Blutzuckerspiegel normalisierte sich nach dem Eingriff wieder. Während sie auf die Ergebnisse der Biopsie warteten, wurde sie an Heiligabend 1999 nach Hause entlassen. Im Januar 200 erhielt Dr. Bowers den Anruf. "Der Hausarzt weigert sich, den Totenschein auszustellen", erklärte Colin Bouwer ruhig. "Können Sie herkommen und unterschreiben?"

Als Dr. Bowers eintraf, fand er eine Szene vor, die mehr Fragen aufwarf, als sie beantwortete. Die Polizei und ein Krankenwagen waren vor Ort. Colin Bouwer war nicht allein. Eine Kollegin, Anne Walsh, stand neben ihm. Ausgestreckt lag Annette Bouwer quer über dem Bett. Das Laken hatte sich gelöst, und das Bettzeug lag im Zimmer herum. Für Dr. Bowers sah es so aus, als hätte sie vor ihrem Tod wild um sich geschlagen. Er fragte sich, warum ihr niemand zur Hilfe gekommen war.
Colin Bouwer erklärte, er habe in einem anderen Zimmer geschlafen und nichts gehört. Das kam Dr. Bowers seltsam vor, denn Menschen, die Krampfanfälle bekommen, machen meist viel Lärm. Er bat Bouwer um Annettes Blutzuckermessgerät und sah den Speicher durch. Dabei stellte er fest, dass die Werte in den vergangenen Tagen fast ausnahmslos extrem niedrig gewesen waren. Annette Bouwer musste es sehr schlecht gegangen sein, und das hätte ihrem Mann auf jeden Fall auffallen müssen. "Colin, sie hätte Hilfe gebraucht. Was ist hier los?", wollte Dr. Bowers wissen. Bouwer reagierte barsch: "Das hat sie abgelehnt, weil Sie ihr schon so viel zugemutet haben."

Dr. Bowers bestand auf einer Obduktion, um postoperative Komplikationen oder einen Tumor auszuschließen, doch Bouwer wollte davon nichts wissen. "Wir brauchen eine schnelle Freigabe", forderte er. "Annette ist Jüdin, und ich muss ihren Leichnam noch heute einäschern lassen." Dr. Bowers war irritiert. Verlangte dieser Glaube nicht eine Erdbestattung? Er weigerte sich beharrlich, den Totenschein zu unterschreiben, ohne gleichzeitig eine Obduktion anzuordnen. Colin Bouwer hatte keine andere Wahl. Als Dr. Bowers schon aufbrechen wollte, sprach ihn Anne Walsh an. "Gut, dass jetzt alles seinen Gang geht – vor allem nach dem, was letzte Woche vorgefallen ist", sagte sie. "Was war das bitte?", entgegnete Dr. Andrew Bowers."Nun, Sie wissen doch sicher, dass Annette Colin beschuldigt hat, er wolle sie umbringen", lauteten die Worte, an die sich Dr. Bowers erinnert. Zweifel kamen ihm dabei allerdings noch nicht. Das sollte erst später passieren. Bei der Beerdigung, an der Dr. Bowers auf Colin Bouwers Bitte als Sargträger teilnahm, stellte er zum Beispiel fest, dass Annette keine Jüdin war, sondern gläubige Christin. Sobald er wieder im Krankenhaus war, rief er den Rechtsmediziner an.

Colin Bouwers Lügen waren dreist, dennoch glaubten ihm viele jedes Wort, selbst erfahrene Psychiater, die normalerweise durchaus in der Lage sind, einen Charakter zu erkennen und Motive zu deuten. Bald nach seiner Ankunft in Neuseeland hatte Bouwer im Kollegenkreis erzählt, er sei als junger Mann in Südafrika wegen seiner Ablehnung der Rassentrennung ohne Prozess ins Gefängnis gekommen und gefoltert worden, und er habe Nelson Mandela persönlich gekannt. (Tatsächlich hatte er mehrere Jahre beim südafrikanischen Militär gedient.) Nach Annettes Tod reiste Bouwer für einen Monat nach Südafrika und kehrte kahlköpfig nach Dunedin zurück. Er gab vor, er habe sich wegen Prostatakrebs einer Chemotherapie unterzogen. (Noch eine Lüge – die aber, wie sich später herausstellte, einem ganz bestimmten Zweck diente.)

In Wahrheit hatte Colin David Bouwer 1975 sein Medizinstudium an der Universität von Pretoria abgeschlossen und sich später an der Universität von Stellenbosch auf Psychiatrie spezialisiert. Er war sehr intelligent und galt als fähiger Therapeut. Frauen fanden nicht nur seinen scharfen Verstand attraktiv, sondern auch die Offenheit und Energie, die der kräftige, vollbärtige Bouwer ausstrahlte. Als die Polizei von Dunedin gegen ihn ermittelte, erfuhr sie, dass er mehrere Affären mit Kolleginnen hatte.

Dr. Andrew Bowers begegnete Colin Bouwer erstmals im Dunedin-Hospital an dem Abend, als Annette das erste Mal ins Zuckerkoma fiel. Es war typisch für Bouwer, dass er gleich einen forschen Ton anschlug. "Er meinte: 'Hören Sie mal, ich bin Arzt, Psychiater und Pharmakologe' – als wollte er mir mitteilen: 'Ich sage Ihnen, was Sache ist'", erinnert sich Dr. Bowers. Er verschaffte sich einen eigenen Eindruck von Annette Bouwer – einen sehr positiven. Er fand sie charmant, intelligent und um ihren Gesundheitszustand besorgt. Dr. Bowers hatte nicht das Gefühl, sie sei deprimiert oder gar selbstmordgefährdet. Sie war die ideale Patientin – bis auf eines: Sie konnte das Krankenhausessen nicht ausstehen. "Sie ließ sich das Essen immer von ihrem Mann bringen", berichtet Dr. Bowers.

Professor Han-Seung Yoon ist ein international renommierter und zugleich bescheidener Pathologe war es, der die Proben von Annette Bouwers Bauchspeicheldrüse untersuchte. Und Yoon hatte auch im Dunedin-Hospital Dienst, als Dr. Bowers mit seinem Antrag auf eine Obduktion ankam. Er hatte sofort ein ungutes Gefühl: dass ein Toter im Krankenhaus obduziert wurde, der nicht hier gestorben war, war ungewöhnlich.

Weil er bei der Obduktion keine unmittelbare Todesursache feststellen konnte, beschloss der Pathologe, die Behörden zu verständigen. Doch mehrere Anrufe bei der Polizei verliefen ergebnislos. Frustriert sprach Yoon einen Polizeibeamten an der Leichenhalle an und erfuhr, dass die Polizei von den Gerüchten, Annette Bouwer sei vergiftet worden, keine Kenntnis habe. Professor Yoon blieb hartnäckig und geriet schließlich an Detective Sergeant Brett Roberts von der Kriminalpolizei. Yoons Verdacht weckte das Interesse der Polizei. Zwar glaubte zu dem Zeitpunkt noch niemand, dass es sich um Mord handeln könnte, doch Yoon und Roberts trafen sich und beschlossen, dass eine vollständige rechtsmedizinische Autopsie angezeigt wäre. Yoon schickte weitere Proben von Gewebe, Blut, Urin und Mageninhalt zur Untersuchung ein. Es wurden kriminaltechnische Tests durchgeführt, die viel detaillierter waren als die im Krankenhaus erfolgten Analysen. Das Ganze dauerte sechs Monate. Als schließlich der Bericht vorlag, enthielt er Brisantes.

Dr. Bowers erinnert sich noch gut daran, wie Roberts mit dem Toxikologiebericht in sein Büro kam. Der Bericht wies auf eine große Menge blutzuckersenkender Medikamente hin. Eins davon – Metformin – war in einer Konzentration vorhanden, die das Fünffache des bei einem Diabetiker zu erwartenden Höchstwerts betrug. Nun stand fest, dass Annette keines natürlichen Todes gestorben war. "Ich wusste es gleich", erinnert sich Dr. Bowers. "Trotzdem musste ich natürlich sagen: 'Es hätte auch Selbstmord sein können', aber geglaubt habe ich es nicht."

Für den Kriminalbeamten Jim Doyle, der die Ermittlungen leitete, und seinen Stellvertreter Brett Roberts war es der schwierigste Auftrag ihrer Karriere. Das Team wurde von einem pensionierten Arzt in die medizinischen Feinheiten des Falls eingewiesen. Bouwers Telefon wurde abgehört. Monatelang ermittelten die Kriminalbeamten gegen ihn. "Uns war klar: Sollte Colin Bouwer auch nur ahnen, dass er verdächtigt wurde, hätten wir ausgespielt, denn er war ein Meister der Manipulation", erklärt Jim Doyle.

Die Ergebnisse der Untersuchung waren erschütternd. Bouwer hatte laut Aussage ehemaliger Studenten einmal darüber gesprochen, den perfekten Mord zu begehen, indem er jemandem Insulin zwischen die Zehen spritzen würde. Er hatte Rezepte gefälscht, um die Medikamente zu beschaffen, mit denen er Annette vergiftete. Er verabreichte ihr über das Essen gerade so viel, dass sich ein Krankheitsbild ergab. Die Komazustände und die Krankenhauseinweisungen wurden inszeniert, um einen glaubwürdigen Eindruck einer ständigen Verschlechterung ihres Gesundheitszustands zu erzeugen. Irgendwann, so erfuhr das Ermittlungsteam, hatte Bouwer sich per E-Mail bei einem Gift-Experten erkundigt, inwieweit kriminaltechnische Tests bestimmte Medikamente im Blut nachweisen konnten. Die Polizisten glichen die Werte aus Annettes Blutzuckermessgerät mit Colin Bouwers Besuchen in verschiedenen Apotheken ab. So rekonstruierten sie, was sich während ihrer letzten Tagen im Haus abgespielt haben musste. Die Zahl der Pillen und die Stärke der Medikamente wurden erhöht, berichtet Doyle. "Am Tag vor ihrem Tod holte er Midazolam und Insulin aus der Apotheke."

Trotz seiner umsichtigen Planung muss Bouwer klar gewesen sein, dass der Verdacht auf ihn fallen könnte. Als er schließlich verhaftet wurde, hatte er sich daher längst ein Alibi verschafft.

Ungern erinnert sich Roberts an das erste Verhör. Monatelang hatte er sich mit den medizinischen Fakten vertraut gemacht, und in der Woche direkt vor der Verhaftung hatte er einen ganzen Fragenkatalog zusammengestellt. "Doch dann sagte Bouwer als Erstes: 'Brett, ich muss Ihnen etwas gestehen. Ich habe unter falschen Namen Medikamente besorgt.' Tja, das war es dann mit meinem schönen Plan für das Verhör." Bouwer erzählte Roberts, bei ihm sei Prostatakrebs diagnostiziert worden – daher der kahle Kopf nach seiner Rückkehr aus Südafrika. Er habe schwere Depressionen und deshalb Medikamente gehortet, um sich das Leben zu nehmen. Er hatte sogar einen Abschiedsbrief geschrieben. Annette müsse die Medikamente gefunden und eingenommen haben.

Was für ein Mensch war Colin Bouwer? Der Kriminalbeamte Roberts reiste eigens nach Südafrika, um das herauszufinden. Er fuhr von Kapstadt nach Pretoria, um Verwandte, Exfrauen und ehemalige Kollegen von Bouwer zu befragen. Schnell wurde Roberts klar: Er war ein Hochstapler. Bouwer hatte Zeugnisse gefälscht. Seine Zulassung als Arzt war ihm vorübergehend entzogen worden, weil er Medikamentenmissbrauch betrieben hatte. Zudem beschaffte er sich bei einem Heimatbesuch nach Annettes Tod Briefpapier eines Urologen aus Pretoria, um Dokumente zu fälschen, die ihm Prostatakrebs bescheinigten.

Aber wo lag Bouwers Motiv? Bei seiner Verhandlung behauptete die Staatsanwaltschaft, sein Motiv seien die 260.000 neuseeländischen Dollar (etwa 162 000 Euro) aus Annettes Lebensversicherung. Außerdem habe er Anne Walsh heiraten wollen. Nach Doyles Aussage ist Walsh für die Polizei allerdings nur "eine unschuldige Nebenfigur". Abgehörte Telefonate bestätigten, dass sie nicht wusste, was Bouwer getan hatte. Doch als Mordmotiv erschien das weit hergeholt. Das Geld stellte für Bouwer kaum ein Vermögen dar. Und warum sollte er Skrupel haben, sich ein drittes Mal scheiden zu lassen? "Wir werden es wohl nie erfahren", meint Doyle. "Aber schließlich haben wir eine Menge Morde untersucht, bei denen uns nur das Motiv fehlte ..." Vielleicht war es etwas Simples und zugleich Unvorstellbares – wie der Wunsch, den perfekten Mord zu begehen. Und um ein Haar wäre es Bouwer gelungen, damit durchzukommen.

In einer nur drei Stunden dauernden Verhandlung wurde Colin Bouwer verurteilt: lebenslang, ohne Bewährung. Im Verlauf dieses Jahres wird er voraussichtlich nach Südafrika abgeschoben werden.