Menschen

Autor: Ariane Heimbach

Ein mutiger Nachbar - Rettung im Plattenbau

Elvis Fetic rettet einen Vierjährigen aus einer brennenden Wohnung die bereits voll dichtem, schwarzen Qualm ist.
Ein mutiger Nachbar - Rettung im Plattenbau
Elvis Fetic

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©Barbara Dombrowski

Die Sonne steht hoch über dem zehnstöckigen Plattenbau im Hamburger Stadtteil Rothenburgsort. Elvis Fetic kommt an diesem Samstag im Juni gegen 13 Uhr vom Einkaufen nach Hause. Bei ihm ist seine schwangere Frau. Während der 29-jährige Bus­fahrer die Einkäufe in die Wohnung im dritten Stock trägt, geht seine Frau zu ihren Eltern. Diese wohnen in einem anderen Trakt des Hochhauses. Dort will die Familie gemeinsam zu Mittag zu essen. Danach plant Fetic in der Wohnung seiner Schwiegereltern zu streichen. Zu all dem wird es nicht kommen.

Fetic verstaut die Lebensmittel. Dann greift er den Eimer mit Roller und Pinsel, den er am Morgen vorbereitet hat und tritt ins Treppenhaus. In diesem Moment schreit eine Nachbarin von oben: „Feueralarm. Bei wem piept es?“ Sekunden später sprintet sie an Fetic vorbei die Treppe hinunter. Fetic rennt hinterher. Im ersten Stock steht eine Frau und schreit um Hilfe. „Was ist los?“, fragt er die Frau, die er flüchtig kennt. Sie antwortet in gebrochenem Deutsch: „Feuer. Hier brennt“, und zeigt auf ihre Wohnungstür. Jetzt bemerkt Fetic auch den Brandgeruch. Er lässt die Malerwerkzeuge fallen und stürzt in die Wohnung. Die Nachbarin läuft weiter nach unten – Hilfe holen.

Eine Wand aus Rauch steht im Flur. Fetic zieht sein Sweatshirt über Mund und Nase. Der Qualm quillt aus einem Raum rechts. Dorthin wendet sich der 29-Jährige. Hitze schlägt ihm entgegen. Seine Augen brennen. „Da stand noch ein Eimer im Flur, halb voll mit Wasser. Offenbar hatte die Frau versucht, das Feuer zu löschen“, erinnert er sich. Instinktiv schüttet er den Rest des Wassers in die Richtung, in der er den Brandherd vermutet. 

Dann sprintet er zurück in den Hausflur. Er weiß, dass die Nachbarin drei Kinder hat. Das jüngste trägt sie in einem Tuch auf den Rücken gebunden. „Wo sind deine Kinder?“, fragt er nachdrücklich. Ihre Tochter sei einkaufen, sagt die Mutter. Aber ihr Sohn ... Fetic glaubt „Kinderzimmer“ zu verstehen, da läuft sie mit dem Baby auf dem Rücken bereits zurück in die verqualmte Wohnung. Fetic folgt ihr. Wegen des Qualms im Kinderzimmer kann Fetic das Etagenbett nur vage ausmachen. Ihm ist klar, bald wird der beißende Rauch den Raum füllen und ihnen den Atem nehmen. Das Feuer zischt und knackt.

Der vierjährige Sohn der Nachbarin liegt im unteren Bett. Offenbar hat er sich aus Angst dort verkrochen. Die Frau schreit in ihrer Muttersprache auf ihn ein. Aber der Junge rührt sich nicht. Er ist groß und schwer für sein Alter. Fetic fackelt nicht und zieht den Jungen, der sich mit Händen und Füßen wehrt, aus dem Bett. Auf Fetics Arm beruhigt sich das Kind zum Glück sofort. Dann eilt Fetic – die Frau immer vor sich – nach draußen: Noch einmal durch den verqualmten Flur, hinaus ins Treppenhaus, ein Stockwerk hinunter. Keuchend setzt er den Jungen im Erdgeschoss ab.

„Im Freien hatte ich zum ersten Mal Angst“, erinnert sich der Retter. „Ich dachte, dass sich das Feuer im ganzen Haus ausbreitet.“ Tatsächlich steigt aus dem Fenster des brennenden Wohnzimmers eine schwarze Rauchsäule. Fetic sprintet zurück in den ersten Stock. „Ich wollte noch etwas retten“, sagt er. „Ich weiß, wie es ist, wenn man alles zurücklassen muss.“ Als Kind war Elvis während des Krieg mit seinen Eltern aus dem Kosovo geflohen. Die muslimische Familie nahm nur das mit, was sie tragen konnten: „Zwei große Plastiktüten“, sagt er. Kaum hat Fetic die Schwelle der brennenden Wohnung überschritten, kommt ihm ein Gedanke: Womöglich explodiert das alles gleich! „Ich bin nicht auf die Idee gekommen, den Hauptschalter im Stromkasten abzustellen“, berichtet Fetic und schüttelt den Kopf.

Er läuft in die Küche, zieht die Stecker von Waschmaschine und Toaster heraus – und schaltet den Herd aus, auf dem noch das Mittagessen kocht. Der Qualm ist inzwischen auch in diesem Raum. „Mir war nicht klar, wie gefährlich das war“, erzählt er. Später erfährt er, dass schon zwei, drei tiefe Atemzüge des giftigen Rauchs bewusstlos machen können. Vor dem Haus haben sich inzwischen viele Bewohner versammelt. Unter ihnen ist Fetics Frau. „Du bist ja völlig schwarz im Gesicht“, sagt sie erschrocken. Im nächsten Moment schließt die Mutter des geretteten Kindes ihn dankbar in die Arme. 

Feuerwehr und Krankenwagen sind bereits vor Ort. Insgesamt 52 Feuerwehrleute sind im Einsatz. In einem der Krankenwagen liegt Fetic und wird mit Sauerstoff versorgt, etwa eine Stunde lang. Als er ins Freie tritt, kommt der Vater des geretteten Jungen auf ihn zu. Auch er umarmt ihn. „In seinen Augen konnte man Glück sehen“, erinnert sich Fetic und lächelt.

Warum es an jenem Tag im Juni brannte, blieb ungeklärt. Wenn Elvis Fetic heute an diesen Tag zurückdenkt, spürt er keinen Stolz. „Ich hatte einfach die Chance, etwas Gutes zu tun“, sagt er.

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