Entführung vereitelt
Ein Mann versucht, ein Mädchen in sein Auto zu zerren. Anna-Maria und Henrik Salomon greifen ein

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Es ist Sonntagmorgen, Anna-Maria und Henrik Salomon machen sich früh auf den Weg. Ein gemeinsames Frühstück mit Anna-Marias Eltern steht auf dem Programm. Um diese Zeit ist auf dem Altenbekener Damm in Hannover nicht viel los. Die 35-jährige Lehrerin hat gerade ihr Handy gezückt, um ihren Eltern mitzuteilen, dass es ein paar Minuten später als vereinbart wird, als ihr Mann plötzlich auf die Bremse tritt. Zugleich lässt er das Seitenfenster herunter und ruft laut „Hey, lassen Sie sofort die Frau los!“
Erschrocken blickt Anna-Maria Salomon auf. Ihr Mann hat direkt neben einem silberfarbenen Kombi angehalten, der am Straßenrand parkt. Dessen Beifahrertür steht weit offen. Davor ringen zwei Menschen miteinander. Ein korpulenter Mann hat beide Hände in die langen, dunklen Haare einer jungen Frau gekrallt. Diese versucht zu entkommen, dreht und windet sich, schreit vor Schmerz. Doch gegen die Kraft des Mannes kommt sie nicht an. Unbeirrt von ihrer Gegenwehr zieht er sie auf die Beifahrertür zu. Anna-Maria schätzt den Teenager auf 16 oder 17 Jahre. Ihr fällt auf, dass das Hemd des Mannes an der Brust zerrissen ist.
Henrik Salomon, Jurist in einer Strafvollzugsanstalt, hat genug gesehen. Der 32-Jährige reißt die Fahrertür auf und läuft auf den Mann zu. „Lassen Sie sofort die Frau los!“, schreit er dabei noch einmal. Der Angreifer lässt die Hände sinken. „Hier sind doch alle bescheuert“, murmelt er. „Ich will sie doch bloß fahren.“ Auch Anna-Maria Salomon ist ausgestiegen. „Kennen Sie den Mann?“, fragt Henrik Salomon die junge Frau. „Nein. Ich bin auf dem Weg zu meinem Freund“, stammelt diese. „Und da wollte ich sie doch nur hinfahren“, erklärt der korpulente Mann. Dann bückt er sich und hebt seine Brille auf, die offensichtlich während der Auseinandersetzung zu Boden gefallen ist. Krachend schlägt er die Beifahrertür zu, läuft um sein Auto herum, setzt sich ans Steuer.
„Wir können Sie gern zu Ihrem Freund fahren“, bietet Henrik Salomon der jungen Frau an. Diese antwortet nicht. Anna-Maria Salomon ist sich sicher, dass der Teenager immer noch Angst hat. „Vielleicht ist es wirklich besser, wenn wir Sie mitnehmen. Wir möchten Sie ungern hier allein zurücklassen“, schaltet sie sich ein. Derweil startet der Angreifer seinen Wagen und wendet. Einige Sekunden zögert die junge Frau noch, dann setzt sie sich ins Auto des Ehepaars. Auch Henrik und Anna-Maria Salomon steigen wieder ein. Der Jurist wählt über die Freisprecheinrichtung die 110, wendet und nimmt die Verfolgung auf.
„Was ist denn genau passiert?“, fragt Anna-Maria die junge Frau. „Der Mann hat neben mir angehalten und mich gefragt, ob ich mal schauen könnte. Vorn rechts am Auto würde etwas klappern. Dann ist er ausgestiegen und hat mich gepackt“, erzählt sie. Der Täter scheint keine Eile zu haben. Mit 50 km/h fährt er vor den Salomons her. Henrik Salomon schildert derweil einer Polizistin am Telefon den Tathergang und nennt seinen genauen Standort. „Geben Sie mir regelmäßig ihre Route durch. Die Kollegen sind schon unterwegs“, sagt die Beamtin.
Minuten später durchbrechen Sirenen die morgendliche Stille. Auf einer Kreuzung schneiden mehrere Polizeifahrzeuge dem Kombi erst den Weg ab, kreisen ihn dann ein. Beamte holen den Fahrer aus seinem Auto, verfrachten ihn in einen der Streifenwagen. Eine Polizistin kommt auf die Salomons zu. „Sie haben die Geschädigte mitgebracht?“, fragt sie. „Das ist gut.“ Die junge Frau steigt in eins der Polizeifahrzeuge um.
Das Ehepaar gibt Personalien und Kontaktdaten an, dann dürfen die beiden fahren. Zeit zum Frühstück bei Anna-Maria Salomons Eltern bleibt ihnen allerdings nicht. Kaum sind sie dort angekommen, ruft die Polizei Henrik Salomon an und bittet ihn, doch auf die Wache zu kommen.
Etwa zwei Monate später liest das Ehepaar in der Zeitung, dass der Mann, den sie aufgehalten haben, offensichtlich wieder auf freiem Fuß ist. In den Berichten heißt es, er habe vor Schulen Mädchen angesprochen und versucht, sie in sein Auto zu locken. Eine Schulleiterin erzählt der Presse, der Mann hätte Zehn- und Zwölfjährigen mehrere Hundert Euro fürs Babysitten angeboten.
Im April 2020 werden die Salomons als Zeugen vor Gericht geladen. Der Täter erhält nur eine Bewährungsstrafe. Anna-Maria Salomon kann das nicht verstehen. „Ich bin mehrfach gefragt worden, ob der Mann orientierungslos gewirkt habe“, erzählt sie. „Angeblich musste er Medikamente nehmen. Für mich gab es aber keinen Hinweis, dass er nicht wusste, was er tat.“
Das Ehepaar möchte sich nicht ausmalen, was passiert wäre, wenn es dem Mann gelungen wäre, das Mädchen in seinen Wagen zu zerren. Die beiden sind einfach froh, dass sie an jenem Sonntag im richtigen Moment am richtigen Ort waren.