Flucht aus Afghanistan
Nach der Flucht aus der Hölle Kabuls in Afghanistan finden der Autor und seine Familie in den Niederlanden eine neue Heimat

©
Diesen Artikel gibt es auch als Audio-Datei
Selbst die Sonne schien das Chaos nicht mit ansehen zu können und ging schneller unter als sonst. Die Nachricht vom Fall Kabuls im Juli 2021 verbreitete sich wie ein Lauffeuer. Flammen des Hasses loderten in den Blicken der Taliban-Kämpfer und trafen eine schockierte, verängstigte Gesellschaft. Jede Frage, jeder Widerspruch galt als offene Feindseligkeit gegen den Allmächtigen. Die Flucht aus der verwüsteten Stadt hatte begonnen.
Ich nahm meine Söhne an die Hand und verließ zusammen mit meiner Ex-Frau das Haus. Wir flohen vor den Taliban, um unsere beiden Jungen in Sicherheit zu bringen. Sie fragten: „Wohin gehen wir?“ Ich wusste es nicht. Durch verwinkelte Gassen erreichten wir das Tor des Flughafens. In der Dunkelheit warteten verzweifelte Männer, Frauen und Kinder darauf, in ein Flugzeug zu gelangen – Menschen mit blassen Gesichtern, die von einem Augenblick zum anderen alles verloren hatten. Auf der anderen Seite der Mauer waren die Flugzeuge bereit zum Abflug. Westliche Soldaten versuchten zu helfen. Frauen und Kinder zuerst. Die Menschen standen dicht gedrängt. Mein jüngster Sohn, Shahriar, vergrub sein Gesicht in meinen Armen und bekam kaum Luft. Zum ersten Mal in meinem Leben überkam mich die Angst vor dem Tod. Im letzten Moment kamen wir an die Reihe und ein amerikanischer Soldat hob Shahriar ins Flugzeug. Wir traten aus der Dunkelheit ins Licht.
Fort aus Afghanistan
Als das Militärflugzeug abhob, tauchten vor meinem inneren Auge Bilder aus der Vergangenheit auf: meine Eltern, die nie lesen und schreiben gelernt hatten. Meine Kindheit in unserem abgelegenen Dorf am Fuß des Pamir-Gebirges, an den Ufern des Flusses Amudarja, unweit der Grenze zu Tadschikistan. Meine Hände, die immer nach Gras und Pferdemähnen rochen. Ich ging damals aus unserem Dorf fort und reiste 800 Kilometer nach Kabul, um dort eine weiterführende Schule zu besuchen und anschließend zu studieren. „Wie alt bist du?“, fragte mich ein Beamter, als ich einen Ausweis beantragte (...)