Frau am Weidefelder Strand aus der Ostsee gerettet
Eine Frau treibt leblos in der wellengepeitschten Ostsee. Herbert Weiss-Ravn handelt sofort und rettet sie aus der Strömung.

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An einem Tag Ende August 2020 brechen Herbert Weiss-Ravn und seine Frau gegen 18 Uhr auf. Das Paar aus dem schleswig-holsteinischen Kappeln macht sich auf den Weg zum nahe gelegenen Weidefelder Strand. Schon seit Tagen weht ein kräftiger Wind, der hohe Wellen an die Küste drückt. Die beiden Rentner sind erfahrene Schwimmer und wissen, dass sie sich bei diesen Bedingungen nicht zu weit ins Meer wagen dürfen. „Die Ostsee ist keine Badewanne und bei Ostwind kann sie sehr gefährlich sein“, erklärt Weiss-Ravn. Als er und seine Frau ankommen, sind nur noch wenige Menschen am Strand. Um diese Uhrzeit ist die DLRG-Station nicht mehr besetzt. Die Flaggen, die anzeigen, ob Badeverbot herrscht, sind abgenommen – zu oft haben Vandalen sie zerstört.
Es herrscht eine tückische Unterströmung im wellengepeitschten Wasser
Welle um Welle rollt heran und bricht im flachen Wasser. „Wir sind nur so weit hineingegangen, bis uns das Wasser bis zum Bauchnabel ging“, erzählt Weiss-Ravn. „Schon da spürte man den starken Sog der Unterströmung.“ Darin liegt die große Gefahr: Wer zu weit hinausschwimmt, muss gegen diesen Sog ankämpfen, der Richtung offenes Meer geht. „Viele unterschätzen, wie kräftezehrend das ist“, sagt der damals 71-Jährige. Das Ehepaar vergnügt sich im flachen Wasser in den Wellen. Dabei nimmt Weiss-Ravn kurz wahr, wie weiter draußen jemand mit den Armen rudert. „Ich dachte, da tobt einer wie wir und habe nicht mehr hingeschaut“, berichtet er. Kurz darauf dreht er sich jedoch noch einmal um. „Irgendwie hatte ich ein komisches Gefühl. Und diesmal sah ich, dass die Person im Wasser lag.“
Das Gesicht der Verunglückten ist kreideweiß. Sie atmet nicht.
Neun Jahre hat der gebürtige Däne auf einer Bohrinsel als Koch gearbeitet und nebenbei eine Ausbildung zum Rettungsbootkapitän gemacht. Er weiß, ein Ertrinkender kann sich nur 20 bis 60 Sekunden an der Oberfläche halten, bevor er untergeht. Weiss-Ravn zögert nicht. Er pflügt durch die Wellen, indem er durch die Täler läuft, die Hände wie Schaufeln im Wasser. Die Kämme überwindet er schwimmend und springend. Er kommt an einer Frau vorbei, die ihn erstaunt ansieht. „Da stimmt was nicht“, ruft er ihr zu und zeigt aufs offene Meer.
Als er bei der ertrinkenden Person ankommt, berührt Weiss-Ravn den Grund nur noch mit den Zehen. Jetzt sieht er: Es handelt sich um eine ältere Frau. Sie trägt einen Badeanzug und liegt mit dem Gesicht nach unten im Wasser. Weiss-Ravn dreht sie um, bettet ihren Kopf in seine linke Armbeuge. Die Augen der Verunglückten sind geschlossen, die Wangen eingefallen, ihr Gesicht ist kreideweiß. Sie atmet nicht. Dann ist die Frau, an der er eben vorbeigeprescht ist, neben ihm. Sie ist ihm gefolgt, um zu helfen. Obwohl sie an dieser Stelle nicht mehr stehen kann, hält sie die Füße der Bewusstlosen hoch – schwimmend. „Schnell zum Strand“, ruft er.
Die Verunglückte hat keinen Puls mehr
So schnell sie können, schleppen die beiden Retter die Verunglückte Richtung Ufer. Mal schwimmen sie, mal stoßen sie sich vom Grund ab. „Ich habe mich wie eine Krabbe seitlich bewegt. Meine Helferin schob uns vor sich her“, erzählt Weiss-Ravn. Immer wieder spricht er die Leblose in seinen Armen an. „,Komm, bleib hier!‘, was man dann so sagt. Aber eigentlich hatte ich genug damit zu tun, sie hochzuhalten, während eine Welle nach der anderen über uns zusammenbrach“, erinnert er sich. Die Unterströmung zerrt an ihren Beinen, aber Weiss-Ravn und seine Helferin schaffen es mit der Frau ans Ufer. Das letzte Stück trägt der Rentner sie über die spitzen Kiesel am Meeressaum, doch er spürt weder die scharfen Kanten der Steine noch seine schmerzenden Bandscheiben.
Zwei jüngere Männer laufen ihm entgegen, nehmen ihm die Ertrunkene ab, legen sie am Ufer in den Sand. Dann beginnen sie mit der Herzdruckmassage. „Die beiden wussten, was sie machen, das habe ich gleich gesehen“, sagt Weiss-Ravn. Er kniet neben der Frau im Sand, fühlt ihren Puls. „Da war erst nichts, doch dann, ganz leicht, kam er zurück“, sagt er. Eine Ärztin, die zufällig am Strand ist, übernimmt und bestätigt: „Da ist wieder ein Puls.“
Erst jetzt spürt der Rentner, wie sehr er friert. Er läuft zu seiner Frau, die ans Ufer geschwommen ist, als sie ihn aus den Augen verlor. Nun ist sie sichtlich erleichtert, ihn wohlauf wiederzusehen. Gleich darauf sind DLRG-Retter vor Ort, packen die Verunglückte in wärmende Folie, setzen ihr eine Sauerstoffmaske auf. Kurz darauf treffen auch Notarzt, Rettungswagen und -hubschrauber ein. Weiss-Ravn, nun abgetrocknet und angezogen, gibt einem Polizisten zu Protokoll, was passiert ist. Dann fahren er und seine Frau nach Hause. „Wir haben uns auf die Terrasse gesetzt und erst mal zwei Cognacs getrunken: zum Warmwerden und zum Runterkommen“, sagt er.
Vier Wochen später steht die Verunglückte mit einem großen Blumenstrauß vor der Tür, um sich zu bedanken. Auch die 78-Jährige kommt aus Kappeln, Weiss-Ravn hatte das leblose Gesicht im Wasser nur nicht erkannt. Die Frau sieht noch ein bisschen mitgenommen aus, aber es geht ihr gut. Darüber, warum sie in Not geriet, will sie nicht sprechen. „Strömung am Strand sollte man nie unterschätzen“, sagt Weiss-Ravn. „Gegen einen starken Sog kommen auch gute Schwimmer nicht an.“