Menschen

Autor: Julius Schophoff

Mit bloßen Händen

Ein Kollege steht in Flammen. Jürgen Ziegler rettet sein Leben.

Mit bloßen Händen
Nach dem Unglück wurden Jürgen Ziegler (rechts) und Kevin Bäuerlein Freunde fürs Leben.

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©Heinz Heiss
Eigentlich hätte sein junger Kollege an diesem Dienstag allein gearbeitet, hier am Ende der Fertigungsstraße der Firma Semcoglas in Schweinfurt. Aber es läuft eine Sonderproduktion: Drei Meter hohe Terrassenfenster werden gefertigt, und Jürgen Ziegler, Leiter der Instandhaltung, geht seinem Kollegen Kevin Bäuerlein zur Hand. Nebenher führt er Wartungsarbeiten an der Maschine durch. Es ist Mai, es herrscht eine der ersten Hitzewellen des Jahres. Fenster und Dach­luken sind aufgerissen, die Ventilatoren surren, trotzdem steht die Hitze in der Produktionshalle. Die Männer tragen schwere Sicherheitsschuhe, blaue Latzhosen und T-Shirts. Der Schweiß rinnt ihnen von der Stirn.

 

Bei der Versiegelung, dem letzten Arbeitsschritt, werden die Fenster maschinell mit einer schwarzen, gummiartigen Masse abgedichtet. Manchmal lässt die Maschine kleine Teile aus. Bäuerlein, 22 Jahre alt, streicht diese Stellen mit einem Spachtel nach und wischt die Ränder mit Reinigungsflüssigkeit sauber. Gerade ist Ziegler mit den Wartungsarbeiten fertig. Danach räumt der 50-Jährige sein Werkzeug in den Werkzeugwagen, vom jungen Kollegen abgewandt.

Dann plötzlich ein dumpfer Ton, wie eine Verpuffung. Ziegler fährt zu seinem Kollegen herum. „Da stand der Kevin und hat gebrannt wie eine Kerze“, erinnert er sich. Von den Schuhen bis über den Kopf lodern die Flammen. „Jürgen, hilf mir!“, schreit Bäuerlein. Ohne zu zögern greift Ziegler ein. Mehr als 30 Jahre lang war er bei der Freiwilligen Feuerwehr. Als Mechaniker stand er nie an vorderster Front. Trotzdem weiß er in diesem Moment instinktiv, was zu tun ist. „Das kannst du nicht lernen“, sagt er. „Du machst einfach.“

Mit bloßen Händen fasst Ziegler in die Flammen, reißt Bäuerlein das schon halb verkohlte T-Shirt vom Leib. „Jürgen!“, ruft dieser immer wieder – und rennt brennend davon, um die Maschine herum, die weiter läuft, als wäre nichts. „Kevin, bleib hier!“, ruft Ziegler. In einer Ecke hinter der Maschine erwischt er ihn am Hosenbund. Ziegler zückt sein Teppichmesser, schneidet Bäuerleins Gürtel durch und reißt ihm die fackelnde Hose herunter. Erst bekommt er sie nicht über die schweren Schuhe, aber dann, mit einem Ruck, gelingt es ihm, sie samt Schuhen von Bäuerleins Füßen zu reißen. „Woher ich die Kraft hatte?“, fragt sich Ziegler heute. „Ich weiß es nicht.“

Ziegler ruft die Kollegen herbei, holt einen Verbandskasten und breitet eine Rettungsdecke aus. Gleich darauf sitzt Bäuerlein nackt auf der silbernen Decke. Die Haut löst sich von Armen, Brust und Beinen, das Wasser rinnt aus allen Poren. „Er muss trinken!“, ruft Ziegler und weist die Kollegen an: Einer hält Bäuerlein eine Flasche an den Mund, ein an­derer sitzt hinter ihm und hält dem jungen Mann die Arme hoch, damit sich die verbrannten Hautstellen nicht berühren. 

„Ich blute gar nicht“, sagt Bäuerlein und blickt an sich herunter. „Aber du, Jürgen! Deine Hände!“ Ziegler schaut auf seine Finger. Sie sind aufgeplatzt, das rohe Fleisch liegt offen. Der Schmerz wird erst Tage später kommen, als das Adrenalin aus Zieglers Körper gewichen ist und er anfängt, sich Fragen zu stellen: „Was, wenn der Junge allein gewesen wäre? Was, wenn ich nicht eingegriffen hätte? Was, wenn ich selbst Feuer gefangen hätte?“ Nach zwölf Minuten ist der Notarzt da. Die Sanitäter wollen Bäuerlein auf eine Trage heben, aber er lässt niemanden an sich heran. „Jürgen!“, ruft er immer wieder, „Jürgen.“ Erst als Ziegler neben ihm sitzt und ihm gut zuredet, lässt er sich anfassen.

Auch im Krankenwagen, in dem die Ärztin Bäuerlein eine Spritze setzen will, um ihn ins künstliche Koma zu versetzen, ist Ziegler bei ihm, bis der Kollege eingeschlafen ist. Erst jetzt lässt Ziegler seine verbrannten Hände behandeln. Das Krankenhaus Schweinfurt ist für die Behandlung von schweren Verbrennungen nicht ausgerüstet, darum bringt ein Hubschrauber Bäuerlein in eine Klinik nach Nürnberg. Acht Tage bleibt er auf der Intensivstation, 40 Prozent seiner Haut sind verbrannt.

Aber Bäuerlein ist ein Kämpfer: Fünf Monate später ist er wieder bei der Arbeit und versiegelt Glasscheiben. Und auf den Tag genau ein Jahr nach dem Unfall verleiht Markus Söder, der bayerische Ministerpräsident, Jürgen Ziegler die Christophorus-Medaille für eine Rettungstat unter besonders schwierigen Umständen. Warum Kevin Bäuerlein in Flammen aufging, weiß niemand. Die Maschine wurde geprüft, vom Hersteller, vom TÜV. Die Polizei war da, der Staatsanwalt – die Ursache fand keiner. Es muss eine explosive Mischung aus den Dämpfen des Versiegelungsmaterials und des Reinigungsmittels, der aufgeheizten Halle und einer statischen Aufladung gewesen sein. „Wir wissen es nicht“, sagt Jürgen Ziegler. 

Warum geschah, was geschah, beschäftigt die beiden Männer heute kaum noch. Aber aus dem Unfall entstand eine Freundschaft fürs Leben. „Kevin ist wie ein Sohn für mich“, sagt Ziegler. Eigene Kinder hat er nicht, aber letzten Sommer nahm Bäuerlein ihn beiseite und sagte: „Jürgen, du wirst Opa.“