Menschen

Autor: Monika Goetsch

Von der Strömung mitgerissen

Ein Junge (8) droht nahe des bayerischen Städtchen Waldkraiburg am Innkanal zu ertrinken. Drei Männer eilen zu Hilfe - mit einem Baustellenschild.

Von der Strömung mitgerissen
Helmut Maier (links) und Marco Schmid (rechts) zogen das Kind aus dem Innkanal. Kilian Huber (Mitte) setzte den Notruf ab.

©

©Maik Kern

Seit sechs Uhr sind Marco Schmid und Helmut Maier im Auftrag ihrer Firma im Einsatz. Am Ufer des Innkanals, der beim bayerischen Städtchen Waldkraiburg Wasser über rund 22 Kilometer zu einem Kraftwerk leitet, mähen die beiden zweimal im Jahr das Gras. Einmal im Frühjahr, einmal im Sommer.

An diesem Mittwochnachmittag Ende Mai ist das Ufer in der Nähe von Waldkraiburg dran. Marco Schmid, 29 Jahre alt, macht sich mit dem Saugmäher am rechten Ufer an die Arbeit. Sein Kollege Helmut Maier, 62 Jahre alt, mulcht die schwerer zugänglichen Böschungen auf der anderen Seite des Flusses. Gegen 15 Uhr hat Schmid rund sechs Kilometer abgemäht und beschließt, seinen Kollegen zu unterstützen. Mit dem Mäher fährt er über die nahe gelegene Brücke. Neben ihm sitzt der 19-jährige Kilian Huber, ein Freund, der Schmid an diesem Tag bei der Arbeit begleitet. Hinter der Brücke parkt Schmid die Mähmaschine, zu Fuß gehen er und der Freund zum Kollegen Maier, der unterhalb des Uferwegs arbeitet. Als die beiden ihn erreichen, schaltet auch dieser seine Maschine aus.

Nach vielen Stunden Motorenlärm herrscht endlich Ruhe. Nur ein paar Kinderstimmen sind zu hören. Schmid hat die fünf Jungen und Mädchen bereits beim Parken bemerkt. Sie sind etwa acht bis zwölf Jahre alt und spielen auf einer Betonrampe, über die man Boote in den Kanal schieben kann. Der Inn scheint hier ruhig zu fließen. Doch ein Schild warnt vor gefährlichen Strömungen: Es ist verboten zu baden oder die Böschung zu betreten. Auf einem weiteren Schild ist ein Mensch abgebildet, der rückwärts ins Wasser stürzt.

Dann ertönen Schreie. Die Kinder! Was sie rufen, können Maier, Schmid und Huber nicht verstehen, aber eines ist klar: Es muss etwas passiert sein. Sie eilen zum Uferweg hinauf. Ein Blick sagt ihnen, dass es für eines der Kinder um Leben und Tod geht. Der Junge treibt im Inn, taucht unter und wieder auf. Verzweifelt kämpft er gegen die Strömung, die ihn un­erbittlich mit sich fortreißt. Die anderen Kinder sind im Begriff, auf die Ufereinfassung zu klettern, um ihren Kameraden zu verfolgen. Schmid schreit ihnen zu: „Weg da, weg!“ Die Kinder weichen zurück.

Den Männern ist klar: Wer auf das abschüssige Betonufer gerät, ist in Lebensgefahr. Viele Menschen sind schon im Innkanal ertrunken. Sein Wasser fließt nicht nur sehr schnell, es ist auch besonders kalt. Höchstens acht Grad hat es an diesem Frühlingstag. „Wir alle kennen den Kanal von klein auf“, sagt Maier, „da geht keiner rein.“ Schmid fügt hinzu: „Wir haben Respekt vorm Kanal.“ Ohne ein Wort zu wechseln, laufen die beiden Landschaftspfleger etwa 20 Meter stromabwärts. Dort ragt ein flacher Betonabsatz in den Kanal. Während Huber einen Notruf absetzt, springt Maier über die Leitplanke auf diesen Absatz. Von hier können sie das Kind aus dem Wasser ziehen, hofft er. 

Schmid folgt ihm zunächst, macht dann aber kehrt. Ihm ist klar: Er braucht etwas, nach dem der Junge greifen kann. Sein Blick fällt auf ein Baustellenschild, das nicht weit weg steht. Er sprintet hin, greift das rostige Schild, dessen Stange nur lose in einem Bodenständer steckt. Dann läuft er zurück. Gleich darauf kauern er und Maier auf dem Betonabsatz, die Stange in Händen.

Gebannt schauen sie zu dem Jungen, der strampelnd auf sie zutreibt. Immer wieder wird er unter Wasser gezogen. Einmal denkt Marco Schmid: „Er ist weg.“ Aber dann taucht das Kind wieder auf, schnappt verzweifelt nach Luft. Noch zwei Meter, noch einen Meter. Die Männer strecken dem Jungen das Schild entgegen. Er packt zu und es gelingt ihm, sich mit beiden Händen daran festzuhalten. Schmid schaut in sein Gesicht: große, dunkle Augen, in Todesangst weit aufgerissen.

Maier und Schmid ziehen den Jungen am Schild vorsichtig ganz zu sich heran, greifen ihn unter den Armen, legen ihn behutsam auf dem Boden ab. „Danke“, sagt der Junge, der vor Kälte zittert. „Danke.“ Acht Jahre ist er alt, wie die Männer später erfahren. Maier glaubt, unter dem T-Shirt des Kindes einen un­natürlich gewölbten Bauch zu sehen. Er vermutet: „Der Bub hat ganz viel Wasser geschluckt.“ Wenige Minuten später ist ein Rettungswagen da. Die Sanitäter ver­sorgen den Jungen und nehmen ihn mit ins Krankenhaus. Schmid, Maier und Huber bleiben am Kanal zurück.

Maier ist sich sicher: Hätte der Junge das Schild nicht zu fassen bekommen, wäre er ihm hinterher gesprungen. Er hätte das getan, obwohl der Kanal auch für gute Schwimmer lebensgefährlich ist. Der Körper kühlt ab, die Kleider saugen sich voll. Die Strudel ziehen einen in die Tiefe. Aber Maier sagt: „Man kann doch nicht zuschauen, wie jemand ertrinkt.“ 

Schmid kommt das Ganze auch Wochen später noch unwirklich vor. Vielleicht, weil alles so unfassbar schnell ging. „Zack, bumm, dann war das vorbei.“ Viele Menschen haben ihn seither darauf angesprochen, ob er es war, der auf die Idee mit dem Schild kam. „Das freut einen schon“, sagt er bescheiden.

Das könnte Sie auch interessieren