Die Insel der Austern
Prince Edward Island in Kanada lockt mit ländlichem Charme und leckeren Meeresfrüchten.

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Im Sommer strömen die Urlauber nach Prince Edward Island (kurz PEI), die kleinste Provinz Kanadas. Hauptattraktionen dieser halbmondförmigen Insel im Sankt-Lorenz-Golf sind die roten Sandstrände, die malerischen Küstenorte und die Parks. Glen und ich dagegen sind wegen der Meeresfrüchte hier. Kanada liefert Fisch und Krustentiere in die ganze Welt. 80 Prozent der kanadischen Muscheln und ein Fünftel der Hummer stammen von hier. Außerdem ist PEI der größte Austernproduzent Ostkanadas.
Anlass unserer Reise ist das Fall Flavours Festival, eine mehrwöchige Veranstaltung im Herbst, bei der die ganze Palette kulinarischer Köstlichkeiten angeboten wird. Wir wollen einige Veranstaltungen besuchen und die Insel erkunden. Aber schon nach unserem ersten Abend setzen wir Chowder mit auf unser Programm und studieren die Liste mit den 63 Restaurants auf dem „Chowder Trail“, dem Eintopf-Pfad.
Unser erstes Ziel am nächsten Morgen ist die größte Touristenattraktion im Ort O’Leary: eine vier Meter große Glasfaser-Kartoffel vor dem kanadischen Kartoffelmuseum. Die rote Erde der Insel ist äußerst fruchtbar, hier gedeihen auf etwa 34.400 Hektar Ackerland vor allem Kartoffeln. Jährlich bringen sie einen Umsatz von fast einer Milliarde Euro.
Hummer und Austern
Am späten Nachmittag erreichen wir Skinners Pond. Die zweite Hummersaison des Jahres hat begonnen, und die Boote bringen ihren Fang ein. Am Kai laden Arbeiter Kisten mit Hummern ab. Unbeeindruckt vom scharfen Seewind beantworten die Männer bereitwillig unsere Fragen. „Gut die Hälfte der 47 Boote ist heute wegen dem heftigen Wind nicht ausgelaufen“, sagt der Saisonarbeiter Chris Hogan, „trotzdem haben wir rund 10.000 Pfund gefangen.“ Hogan hebt einen Hummer hoch – das sich windende Männchen ist so groß wie zwei Speiseteller.
Fischer Blain Gavin, 53, hat heute 700 Pfund gefangen. 500 bis 600 Pfund sind „ziemlich normal“, an einem richtig guten Tag können es auch bis zu 2000 Pfund sein. Die Fischer bekommen pro Pfund rund 5,50 Kanadische Dollar (etwa vier Euro) aber die Zahl der Fanglizenzen ist begrenzt. „Du kannst sie einem Fischer abkaufen, der in den Ruhestand geht. Oder jemanden auszahlen“, erklärt Gavin. Vor 30 Jahren erwarb er eine Lizenz für 75.000 Dollar (rund 54.000 Euro).
Wir beenden unseren Tagesausflug am malerischen North Cape, der nordwestlichen Spitze der Insel mit einem ihrer insgesamt 63 Leuchttürme. Oben im Restaurant Wind & Reef ist der Seafood Chowder (Eintopf) mit Venus- und Kamm-Muscheln jetzt genau das Richtige. Wir lassen den Blick über die vom Eisenoxid rot gefärbten Sandsteinklippen und das heftig aufgewühlte Meer schweifen. Die Aquakultur floriert in den Buchten und Flussmündungen der Insel. Miesmuscheln werden mit langen, röhrenförmigen Netzen im Meer ausgebracht. Bei den Austern handelt es sich entweder um wilde Austern oder um solche, die in Wasserparzellen kultiviert werden.
Besuch beim Austernzüchter
Am nächsten Morgen sind wir mit dem Austernzüchter Adam Buchanan verabredet. Als wir im Westen der Insel ankommen, ist der 37-Jährige gerade dabei, Austern zu prüfen. Diese sind Teil einer Bestellung von 80.000 Austern, die im Laufe des Tages abgeholt werden. Von Mai bis November verkauft der Züchter aus seinen 32 Hektar Wasserparzellen am Foxley River eine Million Austern. Ich frage Buchanan, was er tun muss, damit sie die gewünschte Vermarktungsgröße von sieben bis acht Zentimetern haben, und bekomme eine unerwartete Antwort. „Wir sind nur die Babysitter“, sagt er. „Wir stellen ihnen den Lebensraum zur Verfügung, müssen sie aber nicht füttern. Sie ernähren sich von Algen und Plankton aus den Flüssen.“ In der Laichzeit der Austern im Sommer sammeln viele Züchter die Larven ein. Buchanan bezieht seine von einer Brutanstalt. Ab einer gewissen Größe werden die Jungtiere für rund vier Jahre in Käfigen in den Fluss gehängt.
Austern von Prince Edward Island, nach der zweitgrößten Bucht der Insel häufig auch Malpeque-Austern genannt, sind eine besondere Delikatesse. Sie sind klein, also „leicht zu essen“, und der Salzgehalt des Wassers ist im Vergleich zu anderen Regionen recht hoch. „So erhalten unsere Austern ihren ausgeprägten süß-salzigen Geschmack“, sagt Buchanan. Sein Mitarbeiter Matthew öffnet zwei Austern und reicht sie uns. Verunsichert halte ich eine tropfende Schale in der Hand. „Ich habe noch nie eine rohe Auster gegessen“, gebe ich zu. „Es gibt keine Regel, wie man sie am besten isst“, erklärt Buchanan. Das Fleisch ist unglaublich zart. Beim Ablösen von der Schale wird ein köstliches Salzaroma freigesetzt.
Zusammen mit dem Austernzüchter fahren wir am Foxley River entlang, wo wir zahllose Käfige sehen, die von Flößen ins Wasser hängen. „Hier haben wir Zehntausende Käfige“, sagt Buchanan. „Die teuersten Parzellen der Insel befinden sich in diesem Fluss“. Für einen halben Hektar bezahlt man bis zu 40.000 Kanadische Dollar (28.700 Euro) Pacht pro Jahr.
Am Nachmittag ist unser nächstes Ziel die Stadt Charlottetown an der Südküste. Felder gehen in sanfte, mit Fichten bewachsene Hügel über. Wir machen einen Abstecher zum Künstlerdorf Victoria by the Sea, müssen aber enttäuscht feststellen, dass der Ort an diesem herbstlichen Wochentag menschenleer ist. Zum Glück ist das gemütliche Landmark Oyster House geöffnet, wo wir einen Chowder bestellen. Die Austern darin wissen wir jetzt ganz besonders zu würdigen. Lachs, Schellfisch, Miesmuscheln und Speck runden den aromatischen Eintopf ab. Bald würden sie für den Winter schließen, sagt uns der Kellner. Ich frage ihn, wo die Einheimischen dann essen gehen, doch wir erfahren, dass hier nur rund 40 Leute ganzjährig leben. Die Zahl der Inselbewohner wird insgesamt auf rund 158.000 geschätzt, die Hauptstadt Charlottetown ist mit nur 36.000 Einwohnern klein für eine Stadt mit einem Tiefwasserhafen und einer Universität. Der Ort spielt zudem eine wichtige Rolle in der Geschichte Kanadas: 1864 wurde hier eine Konferenz abgehalten, die zur Gründung des Landes führte.
Wir checken im eleganten Great George Hotel ein, das in einer ruhigen Straße hinter dem historischen Regierungsgebäude Province House liegt. Direkt um die Ecke befindet sich das Brickhouse Kitchen & Bar, ein weiteres Restaurant auf dem Chowder-Trail. Der Eintopf erhielt 2018 den ersten Preis auf dem Internationalen Schalentierfestival der Insel. Der Sud aus Milch, Hummersoße und Gewürzen ist die raffinierteste Mischung, die wir bislang gekostet haben. Darin schwimmen jede Menge Hummerfleisch, verschiedene Muschelarten und Stockfisch, das Ganze großzügig mit Olivenöl beträufelt – eine Wucht! Auch wenn die Grundzutaten ähnlich sind, schmeckt kein Eintopf wie der andere.
Urlaubs-Kochkurs
Wir haben uns zu einem halbtägigen Kochkurs beim Culinary Table Studio angemeldet. Die ehemalige Kirche in New London an der Nordküste ist ein stilvoller Raum mit einer modernen Küche und einem langen Holztisch. „Um halb eins sitzen Sie vor einer köstlichen Mahlzeit“, erklärt uns die Köchin Taylore Darnel. Auf der Speisekarte: Hummer-Risotto, gedämpfte Muscheln mit Fenchel und ein Überraschungsdessert. Wir binden uns Schürzen um und nehmen jeder einen lebenden Hummer in die Hand. Vorsichtig ziehen wir die Gummibänder von den Zangen, manche von uns schauen besorgt auf den dampfenden Topf. Die Köchin beruhigt uns: „Hummer haben kein zentrales Nervensystem und spüren daher auch keinen Schmerz“. Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt, aber mir bleibt nichts anderes übrig, als das Tier vorsichtig ins kochende Wasser gleiten zu lassen. Nach neun Minuten holen wir die Hummer heraus, ihre dunklen Schalen leuchten jetzt hellrot. Schon bald sind wir emsig dabei, das Fleisch auszulösen, Risotto zu rühren, Muscheln von ihren Barthaaren zu befreien und zu waschen.
Zufrieden mit unserem Werk setzen wir uns zu Tisch: Das Risotto ist perfekt, „weder breiig noch suppig“, sagt Darnel. Und der Nachtisch begeistert uns alle: „Kamm-Muscheln am Strand“. Die sautierten Muscheln, verziert mit kandierter Zitronenschale und zerkrümeltem Buttergebäck (der Strand), sind zart und süß. Wenn wir das zu Hause erzählen: „Muscheln zum Nachtisch!“ Die letzten drei Tage verbringen wir in Charlottetown an der Kochschule Culinary Institute of Canada und stöbern in den Geschäften der Stadt. Zudem steht eine Bootstour mit einem fiedelnden Fischer auf dem Programm. Im kleinen Ort Cardigan entdecken wir im Restaurant Clam Digger’s Beach House & Restaurant eine neue Chowder-Variante: Muscheln in einem süchtig machenden Curry-Sud.
Der letzte Abend
Am letzten Abend gönnen wir uns im Restaurant FireWorks von Michael Smith etwas ganz Besonderes. Smith, Fernsehkoch, Kochbuchautor und offizieller Lebensmittel-Botschafter der Insel, bereitet seinen Gästen ein 8-Gänge-Menü. Sein Konzept ist einfach: nachhaltige Hausmannskost, über offenem Feuer zubereitet. Die meisten Produkte stammen aus eigenem biodynamischen Anbau. Nach einer Führung durch den Garten versammelt Geschäftsführer Kevin Petrie die Gäste an einer Feuerstelle, an der Köche Austern grillen. „Chefkoch Michaels Regel lautet: Austern müssen gekaut werden“, sagt er. „Damit sich die Aromen erschließen.“ Das lassen wir uns nicht zweimal sagen. Die fast rohen, warmen Austern sind mit geschmolzener Liebstöckelbutter gewürzt und schmecken traumhaft.
Um 19 Uhr nehmen wir unsere Plätze ein. Das Menü ist ein kleines Wunder: Vom Brot aus einer alten Weizensorte bis hin zum Salat aus Sprossen, Blättern und Blüten. Es gibt Schweinebauch und Blauflossenthunfisch. Der Chowder ist ein Festmahl für sich: mit Miesmuscheln, Atlantische Riesentrogmuscheln, Hummer, Kamm-Muscheln, Taschenkrebse, Meeresalgen und vielem mehr. Viel zu schnell ist unser Aufenthalt auf Prince Edward Island zu Ende. Wir sind begeistert von der Landschaft, den freundlichen Menschen und den frischen Nahrungsmitteln. Ob wir unseren Lieblings-Chowder entdeckt haben? Eigentlich waren alle gut. Aber wir wollen gern weiter probieren. Allein schon, damit wir einen Grund haben wiederzukommen.
Reise-Tipps
Anreise: Flug mit Air Canada von Frankfurt/Main über Montreal nach Charlottetown ab etwa 600 Euro
Übernachten: Mill River Resort, millriver.ca; Great George Hotel, Charlottetown, thegreatgeorge.com; The Inn at Spry Point, innatsprypoint.com
Genuss: Clam Digger’s Beach House & Restaurant in Cardigan, Speisesaal im Culinary Institute of Canada in Charlottetown und Imbiss The Marché, Restaurant FireWorks
Informationen: tourismpei.com