Die Unbezwingbare: Festung Königstein bei Pirna
Erst ein frecher Schornsteinfeger eroberte die scheinbar uneinnehmbare Festung.

©
Der 19. März 1848 ist mal wieder ein friedlicher Tag auf der Festung Königstein. Seit Jahrhunderten thront sie auf einem Tafelberg über der Elbe unweit von Dresden inmitten des Elbsandstein-Gebirges. Ihre Zinnen bekrönen das Hochplateau, von dem aus die Soldaten das komplette Tal überschauen können. Es ist ein malerischer Anblick, so malerisch, dass immer wieder Künstler kommen, um die Szenerie einzufangen: auf der einen Seite der Königstein, auf der anderen der Lilienstein, dazwischen der Fluss, der eine Schleife zieht. Selbst der berühmte italienische Maler Canaletto war hier, um das Idyll festzuhalten. Es ist ein herrlicher Ort zum Leben und Arbeiten, das Paradies für einen Soldaten, der nicht kämpfen muss. Kämpfen muss man eigentlich nie hier oben, der Königstein gilt als uneinnehmbar, das weiß jedes Kind. Seine Mauern sind so dick, dass auch die stärkste Kanonen-Kugel sie nicht durchschlägt. Seit ihrer Gründung 1589 ist die Festung noch nie erobert worden. Plötzlich hört der Wachmann ein Geräusch. Es kommt von weit hinten, aus einem verborgenen Winkel bei dem Fels-Vorsprung Königsnase. Da springt mit einem Satz der 18-jährige Schornsteinfeger Sebastian Abratzky über die Mauer. Durch einen steilen Felskamin ist er die 40 Meter hohe Wand hinaufgeklettert. Der freche Handwerks-Bursche hat am 19. März 1848 geschafft, wozu kein Heer bis dahin in der Lage war: Er hat den Königstein erobert. Die Abratzky-Anekdote gehört heute zu den am häufigsten erzählten Geschichten auf der Festung. Der Kaminkehrer selbst hat sie gewinnbringend verbreitet. Zwölf Tage habe er in dunkler Festungshaft verbracht, schilderte er in dramatischen Worten. Nur wenige Augenblicke nach seiner Ankunft hatte ihn die Wache geschnappt und ins Gefängnis geworfen.
Der Abratzky-Kamin ist heute offizielle Kletterroute
Auch wenn er tatsächlich wohl nur einen halben Tag einsaß: Die Königstein-Eroberung durch den Schornsteinfeger ist verbürgt. Bis heute hangeln sich Wagemutige den Abratzky-Kamin hinauf, er zählt sogar zu den offiziellen Kletterrouten im Elbsandstein-Gebirge. Über die Mauern dürfen die Kraxler allerdings noch immer nicht. Wer heute den Königstein erobern will, muss den Haupt-Eingang benutzen – und Eintritt bezahlen. 500.000 Besucher kommen im Jahr. Sie können in einen Panorama-Aufzug am Festungswall steigen oder auf alten Wegen durch das Torhaus marschieren. Es ist ein dunkler, steiler Aufgang, hineingebaut in eine natürliche Felsspalte. Im Gewölbe gibt es Steinwurf-Schlitze und Pechnasen und eine furchterregende Fallgitter-Tür. Unmöglich für Feinde, hier einzudringen.
Darunter sind ein langgezogener Kasernenbau, ein Proviant-Magazin, ein Schatzhaus, das die Münzfässer des Königshauses beherbergte, sowie ein großes Hauptgebäude namens Georgenburg. 9,5 Hektar misst das Gelände auf dem Hochplateau, eine Fläche, so groß wie 13 Fußballfelder. Sie wird umfasst von meterdicken Mauern, rund 40 Meter hoch auf den Fels gesetzt. Mit der Zeit verschwanden immer mehr Gebäude unter der Erde in den Kasematten, damit die Soldaten und Munitions-Vorräte vor heranfliegenden Geschossen sicher waren. Das Brunnenhaus mit seinem 152,5 Meter tiefen Trinkwasser-Brunnen, der kostbarste Schatz der Festung, bekam ein Gewölbe übergestülpt, wurde als Wohngebäude mit aufgemalten Fenstern getarnt und so vor den Augen der Feinde versteckt.
Höchster Verbrauch an Munition: für Böllerschüsse
Bis zu 400 Mann lebten hier oben mitsamt ihren Familien. Sie hatten alle eine kleine Wohnung und ein Gärtchen. Jeder baute eine andere Gemüsesorte an, und am Markttag auf der Festung tauschten sie ihre Produkte. Es gab einen Lehrer, Pfarrer, Arzt, Metzger und Bäcker. Anfangs waren die Soldaten selbst noch Handwerker. Vor Dienst-Beginn hatte mancher Unteroffizier schon frisches Brot gebacken. Es war ein Treiben wie in einer Kleinstadt mit einem adligen Kommandanten als Bürgermeister. Und dem König von Sachsen als oberstem Hausherrn. Wenn Bernhard Vogler erzählt, wird diese Vergangenheit Stück für Stück lebendig. „Ohne Tritt Marsch“, kommandiert er mit einem leichten Grinsen und führt seine Gästekompanie vom Brunnen-Haus zum Exerzier-Platz. Hier ist alles so erhalten wie anno 1913, als der Königstein seinen Status als Festung verlor und in einen Dämmerschlaf der Geschichte fiel.
Festungsführer Vogler steigt mit seinen Besuchern in die Kasematten. Erstaunlich trocken ist es hier unten und gut beleuchtet. Zum Schluss gab es sogar elektrisches Licht in den sogenannten Munitions-Ladesystemen. Hätte es Krieg gegeben, wären hier die Granaten zusammengebaut worden. Hätte, wäre, wenn: Tatsächlich ging jede Schlacht an der Festung über der Elbe irgendwie vorbei. Selbst als im Dreißigjährigen Krieg von hier oben ein Schuss auf die Schweden abgefeuert wurde, brannten diese anschließend die Siedlung im Tal nieder. Als 1756 am gegenüberliegenden Lilienstein 18.000 Sachsen in preußische Gefangenschaft gerieten, schauten die Soldaten vom Königstein aus nur zu. „Der höchste Munitionsverbrauch ging auf das Konto von Böllerschüssen“, berichtet Bernhard Vogler mit militärischer Präzision, „120 am Geburtstag des Königs, 30 bei geringeren Anlässen.“
Die Festung war auch eine Spielwiese des Hochadels. Der ließ zwischen die militärischen Gebäude seine Repräsentativbauten setzen: den gelben Friedrichsburg-Pavillon etwa – in allerbester Lage auf der Schauseite zur Elbe. Tiefes Loch, lebenswichtiges Nass: Kurfürst August ließ einen 152,5 Meter tiefen Brunnen graben, um die Wasserversorgung der Festung zu sichern. 1408 hatten die Sachsen den Böhmen die Burg am Königstein abgejagt. Weil sie strategisch so günstig an der Grenze lag, wurde sie 1589 zur Festung ausgebaut: Jeder Herrscher fügte ein paar neue Gebäude hinzu und machte die Mauern noch ein wenig dicker. Um das Jahr 1900 hat die Festung ihre heutige Gestalt erreicht. Im Museum im Torhaus kann man durch die Festungs-Geschichte spazieren. Die abenteuerlichen Bauarbeiten an den hohen Mauern verfolgen, aus Lautsprechern den Stimmen und Schlägen der Steinklopfer lauschen. „Unglaublich, was die damals geleistet haben“, sagt eine Besucherin tief beeindruckt.
Der Kommandant war der unumschränkte Herrscher
Am Ende der Ausstellung sitzt Kommandant Theobald Emil Alfred Freiherr von Oer beim Zigarrenrauchen in seinem Herren-Zimmer. Ein Mann mit Privilegien, ohne Zweifel. Nur er durfte auf der Festung ausreiten, nur aus seiner Leitung kam fließend Wasser. Der Kommandant war der unumschränkte Herrscher auf dem Königstein. Er verhängte Arrest-Strafen für Soldaten, die sich nicht zu betragen wussten, oder für Kaminkehrer, die unbefugt über Mauern kletterten. Auch das Jagdrecht in den umliegenden Wäldern übte der hohe Herr aus. Einen kleinen Festungswald gibt es bis heute auf dem Königstein. Hier schlugen die Soldaten ihr Brennmaterial. Im Kriegsfall mussten die Holzvorräte monatelang reichen.
Wer zur Ostseite spaziert, in Richtung der aussichtsreichen Königsnase, geht unter dem schattigen Blätterdach alter Ahornbäume, Eichen und Buchen hindurch. Der Blick ins Elbtal ist umwerfend. Die Sächsische Schweiz ist in weiten Teilen Nationalpark und ein gefragtes Revier für Kletterer und Wanderer. Nicht alle haben ihren Aufenthalt auf der Festung gleichermaßen genießen können. Jahrhundertelang war der Königstein auch Staats-Gefängnis und beherbergte so berühmte Sträflinge wie den Sozialdemokraten August Bebel oder den Alchimisten Johann Friedrich Böttger, der später in Meißen das europäische Porzellan erfand. 1942 gelang einem internierten französischen General sogar die Flucht. Wie einst Abratzky nahm er die Mauer, nur umgekehrt. Er seilte sich von oben nach unten ab, entkam seinen Verfolgern – und hatte zum guten Ende ebenfalls eine großartige Geschichte zu erzählen.
Festung Königstein, 01824 Königstein; Tel. 03 50 21/6 46 07