Malerisch auch im Winter: Fischland-Darß-Zingst

©
Durch andere Wälder fließen Bächlein. Mitten im Darßwald verläuft ein Meeresufer, zumindest ein früheres. Wo heute knorrige Buchen stehen und Kiefern sich knarrend im Wind wiegen, schäumten bis vor wenigen Tausend Jahren Ostseewellen. In erdgeschichtlicher Rekordzeit schichteten Wind und Wasser Sand auf, der die Küste einige Kilometer weiter westwärts schob. Vom Ur-Kliff sieht man vor lauter Bäumen nichts mehr, nur die Hinweistafel „Altes Meerufer“ deutet darauf hin.
Neben dieser bewegten Vergangenheit findet man auf der Halbinsel Fischland-Darß-Zingst noch heute spannende Naturschauspiele. Es lohnt sich, diese zu entdecken, gerade im Winter, wenn die Badeorte, Strände und Waldwege leer gefegt sind. Warm eingepackt, lassen sich Spaziergänge, Radtouren oder auch eine Kutschfahrt unternehmen durch ungezähmte Wälder, Salzgraswiesen und über einsame Strände.
Fischland-Darß-Zingst erstreckt sich als 45 Kilometer langer Bogen an der Küste Mecklenburg-Vorpommerns zwischen Bodden und Ostsee, Rostock und Hiddensee. Nicht nur Naturgewalten verliehen der Halbinsel ihre Form, auch der Mensch gestaltete mit: Bei Fischland, Darß und Zingst handelte es sich einst um drei Inseln. Ab dem Mittelalter halfen die Bewohner dem Versanden nach und schlossen die Flutrinnen zwischen den Eilanden. Ein Damm und eine Landenge verbinden sie mit dem Festland.
Weite Teile der Halbinsel liegen im Nationalpark Vorpommersche Boddenlandschaft, auch ihr grünes Herz, der Darßwald. Er misst fast 6000 Hektar. Wer sich im Meer der Bäume nicht verlieren will, schließt sich einer geführten Wanderung an, die der Nationalpark ganzjährig anbietet. Am Startpunkt „Drei Eichen“ ist Ranger Andreas Zahn leicht auszumachen: waldgrüne Kluft, Filzhut, Fernglas. Die Hände stützt er auf einen geschnitzten Wanderstock, den er unterwegs als Zeigestab benutzt: hier ein uriger Erlenbruch, dort der Zunderschwamm, ein Pilz, der totes Holz zersetzt und so die Kreisläufe des Walds stärkt.
Hinter urigem Wald schimmert ein blauer Streifen Ostsee
Vom Hauptweg lotst Andreas Zahn die Gruppe auf einen zugewucherten Pfad in die Wildnis. Hier, im Verborgenen, befindet sich einer seiner Lieblingsplätze: Bäume und Sträucher bilden einen weiten Kreis um einen Baumriesen mit gewaltiger Krone. „Die vermutlich dickste Buche auf dem Darß“, sagt der Ranger. Einmal versuchten Teilnehmer seiner Führung, den Stamm zu umgreifen. Sechs Erwachsene mussten sich an den Händen fassen.Der 36-Jährige scheint im Wald jeden Winkel, jedes Spechtloch zu kennen. „Die großen ovalen Löcher dort oben stammen vom Schwarzspecht“, sagt Andreas Zahn vor einer Kiefer. Spechte klopfen mehr Baumhöhlen, als sie zur Brut benötigen, erklärt er. „Weil die Weibchen wählerisch sind. Die ziehen nicht in jedes Loch.“
Hinter den Bäumen flimmert ein blauer Streifen: die Ostsee. Es ist der viel gerühmte Weststrand mit seiner stolzen Düne, dem feinen Sand, windgebeugten Kiefern und dem aufschäumenden Meer. Ein nach Salz und Seegras duftendes Paradies – für sehr viele Menschen.
Regelmäßig müssen Andreas Zahn und seine Kollegen unachtsame Besucher aus den Dünen bitten, damit sie nicht den Strandhafer und Strandroggen zertrampeln. Deren tiefe Wurzeln festigen die Düne und verhindern, dass der Sand landeinwärts wandert. „Das wäre nicht gut für den Wald“, sagt er.
Vom Strand führt Zahn zum Finale auf die Rehberge, die ganze sieben Meter über dem Meer aufragen. „Alles, was höher ist als man selbst, wird bei uns Berg genannt“, erklärt der Ranger.
Auch ohne echte Gipfel mangelt es der Halbinsel nicht an Höhepunkten. Beispiel Fischland: Der Landstreifen bildet das südliche Glied der Halbinselkette. An den Boddenwiesen liegt das Fischerdörfchen Wustrow. Vorbei an Gehöften und Fachwerkhäusern bummelt man zum Boddenhafen, zur Seebrücke und zur einstigen Großherzoglich-Mecklenburgischen Navigationsschule. Hunderte Kapitäne bildete die älteste Seefahrtschule Deutschlands aus. Erst Wustrow, dann die Weltmeere.
Mancherorts macht Darß die Straße zur Kunstgalerie
Am nordwestlichen Ende der Halbinsel liegt Zingst. Über eine lange, autofreie Straße lassen sich die Sundische Wiese erschließen, eine Landschaft der Feuchtwiesen, Wattflächen und kleinen Sümpfe. Auch ein 13 Meter hohes Weißdünenmassiv ragt auf. Für Vogelbeobachter herrscht am Bodden im Winter Hauptsaison. Dann huschen flinke Sanderlinge am Spülsaum entlang, Eiderenten und Zwergsäger präsentieren ihr prächtiges Gefieder.Der mittlere Teil, der Darß, ist das kulturelle Zentrum der Halbinsel. In Ahrenshoop siedelten sich ab Ende des 19. Jahrhunderts Maler an. Sie suchten das einfache, naturnahe Leben, fanden in der Dünenlandschaft inspirierende Motive und gründeten eine Künstlerkolonie. Ein Museum zeigt ihre Werke.
Mancherorts macht der Darß die Straße zur Galerie. In Prerow kann es passieren, dass plötzlich jemand ruft: „Ach, schau mal, die alte Tür, wie schön! Und dort noch eine!“ Bunt bemalte Motive schmücken die Eingangstüren von rund 100 Wohnhäusern des Orts. Sie gehören zum Immateriellen Kulturerbe der Unesco.
Die Brüder René und Dirk Roloff fertigen in ihrer Tischlerei in Prerow als letzter verbliebener Betrieb Darßer Türen. Schon als Kinder wuselten sie in der Werkstatt um den Vater herum. Er lehrte sie das Schnitzen, Hobeln und Pinseln. René Roloff mag an den Türen die Farbenfreude und die typischen Motive: eine Sonne oder ein Tulpenstrauß. „Das hat etwas Einladendes“, sagt er. Sozusagen ein Gegenstück zum Schild „Vorsicht, bissiger Hund!“
Über Generationen wurde die Geschichte der Türen nur mündlich überliefert – bis sich René Roloff dazu entschied, beim Schreiben eines Buches mitzuwirken, das die Ornamente und deren Bedeutung auflistet: Kreuze sollten böse Mächte abwehren, Lorbeer galt den Hausbesitzern als Sinnbild von Ruhm, und wer sich eine antike Lyra in die Tür schnitzen ließ, wollte seine kulturelle Bildung betonen. Das Buch räumt auch mit der oft zitierten Anekdote auf, Seeleute seien die Urheber der Darßer Türen gewesen, sie hätten diese an Bord zum Zeitvertreib geschnitzt.„Für eine Tür braucht man eine Hobelbank und oft mehr als 40 Werkzeuge. Das hatte kein Schiff dabei“, sagt Roloff.
Die Türen haben viele Fans. Nicht nur auf der Halbinsel, sondern in ganz Deutschland und sogar im Ausland. „Viele Kunden wünschen sich nach dem Urlaub ein Stück Darß für ihr Zuhause“, erklärt René Roloff. Als spontanes Mitbringsel eignen sich die Türen aber weniger, nicht einmal für Urlauber mit großem Kofferraum. Die Wartezeit für ein Exemplar beträgt zwölf Monate. Vielleicht sind die schönsten Souvenirs ohnehin die Eindrücke, die man auf Reisen sammelt. In diesem Sinne empfiehlt sich das Wandern zum Darßer Leuchtturm. Von der Aussichtsplattform schauen Besucher auf die wogende See. Im Nebenbau erklärt eine Ausstellung die Küstendynamik: Wellen und Strömung tragen den Weststrand ab, mit jedem Jahr geht ein Meter Land verloren. Die Tage des Leuchtturms sind daher gezählt. Der fortgespülte Sand lagert sich weiter nördlich ab. Dort wächst dem Darß ein neuer Zipfel. Die bewegte Geschichte der Halbinsel schreibt sich fort.