Reise

Autor: Lia Grainger

Pilgern auf dem magischen Jakobsweg

Autorin Lia Grainger ist über den Jakobsweg ins spanische Santiago de Compostela gepilgert. Dabei hat sie viele freundliche Mitpilgerer und eine fantastische Landschaft kennengelernt.

© lunamarina / Fotolia.com

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250.000 Pilger gehen den Camino de Santiago de Compostela jedes Jahr – und ich war eine von ihnen. Vermutlich wanderten bereits um 1000 v. Chr. heidnische Wallfahrende diese Wege. Die ersten christlichen Pilger machten im neunten Jahrhundert die Wallfahrt zu Ehren des Apostels Jakob, dem Nationalheiligen Spaniens. Seine Gebeine liegen der Legende nach unter dem Dom der nach ihm benannten Stadt Santiago begraben. Wer heute den Jakobsweg entlanggeht, tut das eher aus weltlichen Gründen. Das galt auch für mich. Schon mein ganzes Erwachsenenleben glaubte ich, ich müsse jeden Moment ausfüllen mit Arbeit, Reisen, Hobbys oder Sozialkontakten. Mein Geist kam nie zur Ruhe, was schließlich unterschiedlichste Ängste auslöste. Ich wusste, ich muss einen Gang zurückschalten. Das kostete meinen ganzen Mut, denn diesen Weg musste ich allein schaffen.

Es gibt mehrere Routen nach Santiago de Compostela

Ich hatte mich für die beliebteste entschieden: El Camino Francés, den französischen Jakobsweg. Die Strecke von Roncesvalles im Süden Frankreichs bis Santiago beträgt rund 800 Kilometer. Ich hatte acht Tage Zeit und beschloss daher, nur das letzte Viertel des Weges zu gehen und in dem Dorf Villafranca del Bierzo zu starten. An einem grauen Morgen im April setzte mich ein Bus am Ortsrand von Villafranca ab. Meine Füße steckten in nagelneuen Wanderschuhen, auf dem Rücken trug ich einen kleinen Rucksack und im Geldgürtel bewahrte ich meinen wichtigsten Besitz auf: einen leeren Pilgerausweis, der mit Stempeln der aufgesuchten Herbergen gefüllt werden sollte.

„Entschuldigen Sie bitte, wo ist der Camino?"

Neben der Bushaltestelle betrat ich eine Kneipe, wo ich auf einen sehr kleinen, alten Mann traf, der Servietten faltete. „Entschuldigen Sie bitte“, fragte ich ihn auf Spanisch und kam mir ziemlich töricht vor, eine solche Frage zu stellen. „Wo ist der Camino?“ Er lächelte und führte mich vor die Tür. „Sehen Sie das rote Kreuz auf der anderen Straßenseite?“ fragte er. „Biegen Sie nach dem Kreuz links ab, dann sind Sie auf dem Weg, der Sie nach Santiago führt.“ Es nieselte, als ich der schmalen Straße den Berg hoch folgte. Nur wenige Autos fuhren vorbei. In der Landschaft entdeckte ich überall Zeichen des nahenden Frühlings. Die niedrigen Mauern, die sich links und rechts der Landstraße hinzogen, waren von dickem Moos und blass-rosafarbenen Sukkulenten bedeckt. Just in dem Moment, in dem ich die Anhöhe erreichte, brach die Sonne durch die Wolken. Ich war allein. Da breitete sich ein intensives Gefühl der Ruhe in mir aus, und ich stieß einen langen Seufzer aus. Ich wanderte weiter, bis ich in den kleinen, aus Natursteinhäusern bestehenden Ort Pereje kam. An der Außenmauer einer Taverne lehnte eine Frau. Ich ging hinein und bestellte einen Café con leche. Während der nächsten Tage verlieh mir die Aussicht auf einen solchen süßen Milchkaffee frischen Schwung.

„Guten Weg noch - Buen Camino!“

Als ich meinen ersten Café con leche schlürfte, zwängte sich ein Mann mittleren Alters durch die Tür. Er ließ sich an der Theke auf einen Barhocker neben mir plumpsen. Ich drehte mich zu ihm und lächelte ihn an. „Woher kommst du?“, fragte ich. „Deutschland!“, antwortete er mit einem Lächeln, das meinem in nichts nachstand. Ich stellte ihm Fragen, doch er unterbrach mich. „Wenig Englisch, sehr wenig“, sagte er. Ich nickte und spürte, es war nicht abweisend gemeint. Als ich gehen wollte und meine Sachen zusammensuchte, tippte er mir auf die Schulter. „Buen Camino!“, wünschte er mir. „Buen Camino!“, antwortete ich. Diese beiden spanischen Wörter kannte jeder Pilger – sie waren so etwas wie ein Erkennungszeichen.

Übernachten in der Pilger-Herberge: Um 22 Uhr Licht aus, um 8 Uhr weiter wandern

Ich hatte mir vorgenommen, rund 29 Kilometer bis O Cebreiro zu wandern, ein Ort hoch auf dem Berg gelegen (auf dem Foto oben abgebildet sehen Sie die Berge nahe O Cebreiro). Mein Plan war, den offiziellen Stationen des Jakobswegs zu folgen, zwischen 18 und 37 Kilometer pro Tag. Das Gelände war sehr unterschiedlich: von schlammigen Bergpfaden bis zu Wegen, die einer Landstraße folgten. Doch bereits am ersten Nachmittag, es dämmerte schon, stellte ich fest, dass O Cebreiro noch fünf Kilometer entfernt war. Also erklomm ich den steilen Anstieg zu dem winzigen Bergbauerndorf La Faba, um mir einen Schlafplatz für die Nacht zu suchen. Jahrhundertelang haben Pilger unter freiem Himmel übernachtet oder bekamen Obdach in Scheunen, Kirchen oder den Wohnhäusern der Einheimischen. Heutzutage trifft man fast alle fünf Kilometer auf eine Albergue, eine nur mit dem nötigsten ausgestatteten Herberge.

Die erste ihrer Art, in der ich übernachtete, war die Albergue German Confraternity de Faba, in der mich die blonde Pensionärin Ellen Zierott begrüßte. Sie nahm die fünf Euro Gebühr entgegen und erklärte mir die Regeln: Wanderstiefel im Vorraum ausziehen, Licht aus um 22 Uhr, und um Punkt acht Uhr morgens mussten alle die Herberge verlassen haben. Da die Schlafenszeit näherrückte, lief ich rasch die Straße hinunter in eines der beiden Lokale und schlang einen Teller Nudeln in mich hinein. Wieder zurück schlüpfte ich unter die dünne Fleecedecke. Das Licht ging aus, und Sekunden später erfüllte vielstimmiges Schnarchen den Raum. Ich verfluchte mich, dass ich Ohrstöpsel vergessen hatte, schlief aber kurz darauf erschöpft ein. „Guten Morgen!“, sagte eine gut aufgelegte Stimme. Ich brauchte einen Moment, bis ich Ellen erkannte. „Guten Morgen!“, erklang die verschlafene, aber fröhliche Antwort im Chor.

Ich schaute auf die Uhr: sieben Uhr, Zeit aufzubrechen

Ich trat in den dunklen, frostigen Morgen hinaus. Die Pilger, mit denen ich mich am Abend zuvor im Lokal unterhalten hatte, sagten, es gebe Schnee (O Cebreiro liegt 1296 Meter hoch), doch ich hatte das nicht ernst genommen. Es war schließlich April. Aber innerhalb von drei Stunden änderte sich das Wetter, und der Wind peitschte die Bäume hin und her. Vor mir tauchte ein Ort auf: O Cebreiro. Die erste Tür, die offen stand, betrat ich. In der Taverne glühten Kohlen in einem riesigen Kamin. Ich zog mir einen Stuhl neben einen Mann mit blauen Augen und weißem Bart. „Einen Caldo Gallego“, sagte der Mann zur Bedienung. Er drehte sich zu mir um. „Der ist hier sehr gut.“ Daraufhin bestellte ich das gleiche. Uns wurde ein typisch galizischer Eintopf mit Schweinefleisch, weißen Bohnen und Kohl in einer schlichten, braunen Keramikschüssel serviert, dazu deftiges Brot. Wir unterhielten uns. Günter kam aus Deutschland und war zum dritten Mal hier.

Ich traf überraschend viele Deutsche

Später erfuhr ich den Grund: der Bestseller Ich bin dann mal weg von Hape Kerkeling. „Leute haben Probleme“, sagte Günter in holprigem Englisch. „Sie kommen zum Camino, und die Probleme gehen weg.“ In dem Augenblick riss jemand die Tür auf und brachte einen Schwall kalter Luft mit. Herein kam ein anderer Deutscher, der zufälligerweise ebenfalls Günter hieß. Er war jünger und bestellte auch einen Caldo. „Ich bin Erfinder“, sagte er, als ich ihn fragte, was ihn auf den Jakobsweg trieb. „Haben Sie je eine aufblasbare Kinoleinwand gesehen? Das war meine Idee.“ Dann erzählte er, dass die Geschäfte mit seinen Erfindungen gut liefen, bis seine Partner ihn um seinen Firmenanteil betrogen. „Damals war ich am Boden zerstört. Ein Jahr lang lag ich nur auf dem Sofa herum“, berichtete er.

Eines Tages griff er zu einem Buch, das seine Frau gerade las. Es stammte aus der Feder des brasilianischen Schriftstellers Paulo Coelho und hieß Auf dem Jakobsweg – Tagebuch einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela. Dieser Reisebericht verhalf dem Camino in den 1980er-Jahren zu einem Comeback. „Zehn Tage wanderte ich auf dem Jakobsweg“, erzählte Günter. Heute war einer der letzten Tage seiner sechsten Pilgerreise. Er war davon überzeugt, er habe es dem Camino zu verdanken, dass er seine Depression überwand und nach Jahren vergeblicher Versuche endlich ein Kind zeugen konnte. Ich war zutiefst gerührt von seiner eindringlich erzählten Geschichte.