Reise

Autor: John Hooper

Venedig mal anders

Ein Spaziergang durch die einzigartige Stadt zu geheimnisvollen Plätzen.

© Nejron Photo/Fotolia.com

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Jedes mal wenn ich nach Venedig komme, staune ich wieder über seine Schönheit. Wie alle Besucher, die an Venedigs Bahnhof Santa Lucia ankommen, folge ich zunächst den Schildern zur Rialtobrücke. Heute aber möchte ich ein anderes Venedig erleben. Also biege ich, nachdem ich die Brücke Ponte delle Guglie überquert habe, links ab und betrete hinter dem Stand des Fischhändlers am fondamenta (venezianisch für gepflastertes Ufer) eine andere Welt. Im sestiere (Distrikt) Cannaregio leben mehr als ein Drittel aller Einwohner Venedigs. Cannaregio gilt als ein Ort der Überraschungen. Geht man ein Stück weiter, ist man im Getto. In diesem Viertel lebten im frühen 16. Jahrhundert die Juden der Republik Venedig. Im Vorbeigehen entdecke ich eine Wandtafel, die Juden davor warnt, das Christentum zu verteufeln und ihnen "mit dem Strang, dem Gefängnis, dem Galgen und der Peitsche" droht.

Hinter dem Rio della Misericordia – ironischerweise "Kanal des Mitleids" genannter Fluss durch das Getto – liegt eine ruhigere Gegend. Die wenigen Menschen, die zufällig an der Kirche Sant' Alvise vorbeigehen, schenken ihr kaum Beachtung. Obwohl sich hinter dem Altar drei Arbeiten von Giovanni Battista Tiepolo befinden, dem großen Rokokomaler des 18. Jahrhunderts. Sant' Alvise ist auf eine betörende Art eigentümlich. Der Künstler, der die Decke bemalt hat, zeichnete perspektivisch, um den Eindruck entstehen zu lassen, die Säulen ragten durch das Dach in den Himmel. Aber dabei ging irgendetwas schief. Wenn man nicht genau in der Mitte der Kirche steht, scheinen sich die Säulen auf der gegenüberliegenden Seite alle in die falsche Richtung zu neigen. Am anderen Ende der Kirche sind Szenen aus dem Alten Testament aufgemalt. Ein Detail sticht besonders ins Auge: ein mit Quasten verzierter Baldachin über einem König. Es scheint, als ob der Maler ein Original aus dem Osten zum Vorbild hatte. Mehr als jeder andere Kleinstaat, aus denen Italien vor seiner Einigung im 19. Jahrhundert bestand, blickte Venedig nach Osten: Richtung Sonnenaufgang, nach Persien. Arabische und andere östliche Einflüsse wirkten sich auf alle Bereiche von der Architektur bis zum Schmuck aus.

Ich kehre zur Fondamenta della Sensa (Uferstraße) zurück und spaziere Richtung Osten zum kleinen Campo dei Mori, Mohrenplatz. Der Platz ist benannt nach den drei geheimnisumwobenen Skulpturen in Gewand und Turban an den Hauswänden: Die Mohren sind von der Witterung gezeichnet – ihnen fehlen die ursprünglichen Nasen. Die gängigste Erklärung lautet, es handle sich um drei Brüder, Seiden- und Gewürzhändler, die im zwölften Jahrhundert als Flüchtlinge aus Morea kamen – der griechischen Halbinsel Peleponnes. Aber weshalb tragen sie dann orientalische Kleidung? Und warum gibt es neben dem Haus von Cannaregios berühmtestem Sohn Tintoretto, dem Maler der späten Renaissance, einen vierten Mohren?

Ganz in der Nähe befindet sich die Kirche Madonna dell' Orto. Dort ragen Tintorettos Jüngstes Gericht und Die Anbetung des goldenen Kalbs 15 Meter hoch bis zur gewölbten Decke. Hinter der Madonna dell' Orto liegt eine Haltestelle für Vaporetti (Wassertaxis). Ich nehme die 4.2 zum Uferkai Fondamenta Nuove. "Wir tun unser Bestes, um die Touristen zu verwirren", scherzt ein Einheimischer, während wir gemeinsam warten. Ein gutes Beispiel dafür sind die Nummern der Vaporetto-Linien.

Nach einem Espresso fahre ich mit der Linie 12 zu der schönen Insel Burano, deren Häuser in allen Farben des Regenbogens gestrichen sind. Danach geht es mit der 9 zur Insel Torcello, eine Zeitreise in die Vergangenheit. Torcello ist in dieser Jahreszeit so gut wie unbewohnt. Aber zum Glück sind entlang des Ziegelwegs, der von der Vaporetto-Haltestelle wegführt, einige Restaurants geöffnet. Es bläst ein kühler Wind. Möwen kreischen. Ich betrete die gemütliche Osteria al Ponte del Diavolo, um einen Teller dampfende Pasta zu ordern: Spaghetti al nero di seppie (Spaghetti mit Tintenfischtinte), Venedigs traditionsreichstes Gericht. Für die meisten Leute besteht Venedig aus einer Reihe von Inseln, die um den Rialto herum eine große Insel in Form eines Fisches zu bilden scheinen. Zu Venedig gehören aber auch die anderen Inseln an der Lagune, und es gab eine Zeit, als Torcello die bevölkerungsreichste und wichtigste von allen war. Nach dem Zusammenbruch des Weströmischen Reiches strömten Germanen auf die italienische Halbinsel und vertrieben die Bewohner Richtung Lagune. Die meisten Flüchtlinge ließen sich auf Torcello nieder und zählten fortan zum Oströmischen Reich, dessen Hauptstadt Konstantinopel beziehungsweise Byzanz war.

Ich stehe auf Giudecca, der langen, aalförmigen Insel unterhalb des Fischbauches. Außerhalb der Saison gibt es hier noch weniger Touristen als in Cannaregio. Giudecca beginnt sich zu einem alternativen Viertel zu entwickeln. Verschiedene Kunstgalerien haben sich entlang des Kais niedergelassen. Eine von ihnen feiert gerade eine Eröffnungsparty. Lachen und Gläserklirren dringen nach draußen. Ein Stück weiter entdecke ich das Generator Hostel, das in einem alten Getreidespeicher errichtet wurde. Die Bar des Hostels mit ihrer pfiffigen, etwas schrullig wirkenden Retro-Dekoration würde auch in die trendigen Viertel Berlins passen. Genau der richtige Ort für einen Aperitif.

Ich suche die Calle de la Pietá auf. Dort gibt es ein Haus mit einem kleinen Flachrelief von der Jungfrau mit Kind. Daneben, kaum sichtbar, befindet sich ein Schlitz für Opfergaben. Noch seltener bemerken Besucher, so nehme ich an, das hölzerne Teil, das aus der grünen Tür herausragt. Es gehörte zu einer Drehtür. Diese beherbergte früher eine Findelklappe, in die Mütter ihre Babys legen konnten, um den Nonnen deren Erziehung zu überlassen. Weiter abwärts liegt das ehemalige griechische Viertel. Am Kanal Rio dei Greci befindet sich die orthodoxe Kirche San Giorgio und gleich daneben ein Ikonenmuseum. Die ältesten Stücke stammen aus dem 15. Jahrhundert und wurden aus Konstantinopel gerettet, als es an die Türken fiel.

Um 15.10 Uhr startet das Vaporetto Nummer 20 zur letzten Station meiner Reise: zu den legendenumwobenen Inseln von San Lazzaro degli Armeni, eine ehemalige Leprakolonie. Sie wurden einem Orden armenisch-katholischer Mönche zugesprochen, die 1717 aus ihrem Kloster in Morea geflohen waren, nachdem es von den Türken erobert wurde. Heute birgt das Klostermuseum exotische Schätze. Hier findet man zum Beispiel ein Manuskript in der ausgestorbenen altäthiopischen Sprache Ge'ez oder ein Schwert, das dem letzten Herrscher des fast vergessenen armenischen Königreichs von Cilicia gehörte. Gegen Ende meines Besuchs frage ich den Mönch, der mich in der Kirche mit ihren leuchtenden türkisen Decken und Mosaiken herumgeführt hat, woher er kommt. "Aus Kessab in Syrien", sagt er. "Das gehörte einstmals zum Königreich von Cilicia."

Anreise
Ob Sie mit Ihrem eigenen Auto, der Bahn oder dem Flugzeug nach Venedig reisen, Tipps finden Sie unter www.italien.info/staedte/ venedig/anreise.aspx

Unterkunft
Hotel Pensione Wildner, Castello, 4161, 30122 Venezia, zentral gelegen, Doppelzimmer inklusive Frühstück ab 250 Euro, www.hotelwildner.com
Generator Hostel Venedig,umfunktioniertes Getreidehaus in Giudecca, Doppelzimmer ohne Frühstück ab 90 Euro, Fondamenta Zitelle 86, 30133 Venedig, www.generatorhostels.com

Besichtigen
Im Herzen von Cannaregio liegt der alte Wohnbezirk der venezianischen Juden. Führungen durch die Synagogen bei Voranmeldung auch auf Deutsch, www.museoebraico.it

Informationen www.venedig.net und www.italien.city-tourist.de/venedig.htm