Reise

Autor: Torben Diedrich

Watt ist dat schön! Mit zwei PS übern Meeresboden

Mit zwei Pferdestärken geht es bei Ebbe über den Meeresgrund von Cuxhaven zur Insel Neuwerk.

© iStockfoto.com / wongkaer

©

©© iStockfoto.com / wongkaer

Helene und Hermine schnauben. Das Klatschen ihrer Hufe im Watt und der Atem der beiden Kaltblutstuten waren lange die einzigen Geräusche am frühen Morgen. Nur das Geschrei von Silbermöwen durchbricht ab und an die Ruhe. Da ruft von der Kutsche Jan Brütt seinen acht Fahrgästen scherzhaft zu: „Alle Wertsachen festhalten, wir fahren nach Hamburg rein!“ Heiteres Gelächter. Nach knapp neun Kilometern Fahrt durch die faszinierende Wattlandschaft bekommt das Gespann jetzt den festen Grund der Insel Neuwerk unter die Räder und schaukelt in der Morgensonne zielstrebig einer Teestube entgegen. Auf einem Schild steht geschrieben, dass man sich nun tatsächlich in Hamburg befindet. 1969 bekam die Hansestadt die Insel sowie die umgebenden Wattgebiete als Teil eines Tauschgeschäftes mit Niedersachsen zugesprochen.

Eineinhalb Stunden vorher: Jan Brütt lenkt seine gelbe Wattenpost vom Nordseestrand in Cuxhaven-Duhnen auf das Watt, vorbei an muschelbekränzten Sandburgen. Der Name der Kutsche täuscht nicht. „Zweimal in der Woche nehme ich den Briefträger mit nach Neuwerk“, sagt Brütt. Die Insel ist noch nicht zu sehen, sie liegt irgendwo verborgen im lichten Morgennebel. Bei Ebbe zieht sich die Nordsee vor Schleswig-Holstein und Niedersachsen weit zurück und gibt eine einmalige, erstaunliche Landschaft frei. „Die Watten“, sagt Jan Brütt. So weit das Auge reicht, erstreckt sich der von großen und kleinen Wasserläufen, sogenannten Prielen, durchzogene Meeresboden. Seine Oberfläche ist rotbraun, manchmal hellbraun, an einigen Stellen sogar tiefschwarz. Die Sonnenstrahlen spiegeln sich in den kleinen Wasserflächen zwischen den leichten Bodenwellen.

 

Drei Schutzgebiete vor der Nordseeküste bewahren diese einzigartige Gegend, die Nationalparks Niedersächsisches, Schleswig-Holsteinisches und Hamburgisches Wattenmeer. Ein ständiger Begleiter auf dem Watt ist der salzige Wind. Mal braust er in Böen herbei, mal streichelt und schmeichelt er. Seinetwegen hat sich ein Ehepaar aus dem Elsass hinter dem Kutschbock in Decken gehüllt und genießt so den Ausflug in diese von den Gezeiten bewegte Landschaft. „Wofür sind die denn gut?“, fragt der Mann und zeigt auf mannshohe Gebinde aus Ästen, die im Wattboden befestigt sind, jeweils im Abstand von etwa zehn Metern. „Das sind Buschbaken“, erklärt Jan Brütt mit schönstem friesischen Zungenschlag. „Sie weisen der Wattenpost und Wanderern den sicheren Weg durch das Watt. Diese hier haben wir im Frühjahr gelegt.“ Die Routen ändern sich ständig, abhängig vom Untergrund. Stellen mit zu tiefen Prielen oder unsicherem Boden müssen umgangen werden. Die heutige Tour führt gleich durch mehrere dieser Priele. Es rauscht, wenn die Kutsche hindurchgezogen wird und die kräftigen Pferde das Wasser aufwirbeln, das oft einen halben Meter tief ist.

Das Watt ist belebter als der tropische Regenwald

Die falsche Einschätzung der Gezeiten und schnell volllaufende Priele können unerfahrene Wattwanderer leicht in Bedrängnis bringen. „Am besten, man schließt sich einer geführten Wanderung an“, rät Jan Brütt und grüßt eine solche Gruppe, die barfuß oder in bunten Gummistiefeln über den Meeresboden stapft. „Die halten natürlich an jeder Muschel an“, sagt Brütt und lächelt schelmisch. Die Mädchen und Jungen jedenfalls schaufeln mit Begeisterung alles an die Oberfläche, was ihnen unter den Spaten kommt. Ein Schwarm Austernfischer rast im Tiefflug vorbei. Für eine ganze Reihe von Vogelarten sind die nahrungsreichen Gründe des Wattenmeers ein gefundenes Fressen. Hier gibt es mehr Lebewesen als in einem vergleichbar großen Stück Regenwald. Ein Leckerbissen sind Wattwürmer. Deren Hinterlassenschaften in Form von Abermillionen geringelten Häufchen im Watt bestehen aus reinem Sand, der einmal durch den Wurm gewandert ist. Auf diese Weise wird das gesamte Sediment pro Jahr zehn bis 20 Mal wiederverwertet. Der Nationalpark Hamburgisches Wattenmeer liegt dicht an der Elbmündung, einer der meistbefahrenen Seefahrtstraßen der Welt. So können die Fahrgäste der Kutsche das Watt genießen, während sich ab und zu eines der großen Frachtschiffe ins Blickfeld schiebt. Die 35 Bewohner von Neuwerk schwören seit jeher auf Pferdegespanne als Transportmittel zur Versorgung mit allem Nötigen. Es sieht ganz danach aus, dass es so bleiben wird. Und hinterher schmeckt die Tasse Ostfriesentee nun einmal besonders gut.