Allein. Verletzt. Aber noch am Leben
Mit letzter Kraft schleppt sich Gregg Hein, schwer verletzt und allein, durch die Berge der Sierra Nevada in Kalifornien...

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Der Blick von der Spitze des 4135 Meter hohen Mount Goddard enthüllte die raue Pracht der kalifornischen Sierra Nevada: Schroffe Berggipfel, Abhänge aus Granit und kobaltblaue Weiher erstreckten sich bis zum wolkenlosen Himmel. Die Sonne brannte schon heiß auf Gregg Heins Haut, tief atmete der schlaksige 33-Jährige durch. Solche einsamen Touren liebte er schon lange. Immer, wenn er als Student traurig oder frustriert gewesen war, schnappte er seine Wanderschuhe und ging in die nahen Berge. Hein brach sein Studium kurz vor dem Abschluss ab, um sich ganz seiner Leidenschaft zu widmen. Als Feuerwehrmann, Wildwasser-Guide und Höhlenforscher zog es ihn nach Oregon, Alaska, Vermont und Utah. 2014 kehrte er zurück, um sein Studium zu beenden. Jetzt feierte er seinen Abschluss in Ökologie.
Am Donnerstagmorgen hatte Gregg Hein das Haus seiner Eltern verlassen und war drei Stunden bis zum Wanderparkplatz im Sierra National Forest gefahren. Er hatte einen fünftägigen Ausflug geplant, vom Florence Lake bis zum Mount Goddard und zurück, insgesamt 60 Kilometer. Am Samstag gegen Mittag trug er sich ins Gipfelbuch auf dem Mount Goddard ein und freute sich, dass er in diesem Jahr offenbar erst der dritte Wanderer war. Dann begann Hein auf der Nordseite den Abstieg. Das steile Gelände war mit Geröll übersät. Er bewegte sich vorsichtig, um keine Lawine auszulösen. Zur Stabilisierung stützte er sich mit der rechten Hand am Hang ab. Auf einmal hielt er ein faustgroßes Stück Fels in der Hand.
Im nächsten Moment kam ihm ein Brocken von einem Meter Durchmesser entgegen, der sich durch seinen Griff gelöst hatte. Ehe der 33-Jährige zur Seite springen konnte, krachte dieser gegen seine rechte Wade, brach ihm Schien- und Wadenbein und warf ihn auf den Rücken. Wie auf einem Schlitten rutschte Hein auf seinem Rucksack ein Schneefeld hinunter. Er wurde immer schneller, und dabei prallte seine rechte Ferse gegen einen Felsen. Als er nach unten sah, erkannte er, dass unterhalb seines Knies ein Knochen durch die Haut ragte. Hein schlitterte auf einen Felshügel zu, dabei hinterließ sein rechtes Bein eine Blutspur. Indem er seine linke Ferse und seine linke Hand in den Schnee rammte, gelang es ihm, in letzter Sekunde abzubremsen.
Der Schmerz pulsierte durch sein Bein, aber der junge Mann versuchte ihn – ebenso wie sein heftig pochendes Herz – zu ignorieren und sich erst einmal ein Bild von seiner Situation zu verschaffen. Für einen Abstieg waren seine Verletzungen zu schwer. Es gab kein Mobilfunk-Netz in dieser abgeschiedenen Gegend. Seinen Eltern hatte er gesagt, er werde am Montag zurück sein. Das bedeutete, vor Dienstag würden sie ihn nicht als vermisst melden. Vorher würde ihn wohl auch niemand finden.
Zuerst musste Hein einer Unterkühlung vorbeugen. Würde es kälter werden, fiele er vielleicht in einen Schockzustand. Er zog eine lange Unterhose und eine Fleecehose an, unter sein geknöpftes Wanderhemd noch drei lange Unterhemden. Um den Druck auf das zertrümmerte Bein zu reduzieren, entledigte er sich seines rechten Wanderschuhs. Der 33-Jährige blutete heftig, aber er wusste, dass er möglicherweise sein Bein verlieren würde, wenn er es abband. Das wollte er, solange es möglich wäre, verhindern. Bis dahin stabilisierte er den Bruch. Mit einem Taschenmesser schlitzte er das rechte Bein seiner Unterhose der Länge nach auf, schnitt einen breiten Streifen seiner Isomatte ab und wickelte ihn um Wade und Schienbein. Mit seinen Teleskop-Wanderstöcken, seinem Ledergürtel und Nylongurten baute er eine provisorische Schiene für sein rechtes Bein.
Unterhalb eines Schneefeldes sah Hein eine breite, flache Felsplatte, die ihm eine einigermaßen bequeme Liegefläche bieten würde. Er schulterte seinen Rucksack und versuchte, auf dem Po das Schneefeld zu erreichen. Aber mit dem schweren Gepäck schaffte er es nicht. Der Verletzte überlegte: Er hatte für zwei Tage Nahrung und Flüssigkeit. Lebenswichtig erschien ihm aber etwas anderes einen Unterschlupf oder Dinge, mit denen er um Hilfe rufen oder die er als Werkzeuge einsetzen konnte.
Also verstaute Hein seine Handschuhe und zwei Fleecemützen in der Hose und hängte sich seine Stirnlampe um den Hals. Am Brustgurt seines Rucksacks gab es eine eingebaute Trillerpfeife die schnitt er ab und befestigte sie an seinem Hemd. Dann steckte er das Messer und Seile in die Hosentasche, stopfte sein Regencape in den Schlafsack und schlang sich das Bündel um die Schultern. Den Rucksack ließ er zurück, um sich im Krebsgang weiterzuschleppen.
Von der Anstrengung wurde ihm schwindelig, aber diesmal erreichte er das Schneefeld. Hein stieß sich ab und rutschte etwa 30 Meter abwärts. Vor der Felsplatte kam er zum Halten. Nach zehn Minuten hatte er endlich die höchste Stelle erreicht, wo er eine ebene Stelle neben einem großen Felsblock vorfand. Er räumte einige Steine weg, um seinem Bein eine stabile Lage zu ermöglichen, und ließ sich schließlich nieder. Der Verletzte suchte die baumlose Wildnis unter sich mit den Augen ab, sah aber kein Anzeichen dafür, dass sich dort Menschen aufhielten. Er blies trotzdem in seine Pfeife und schrie "Hilfe!" Das Echo klang wie ein Chor höhnischer Stimmen.
Einen Tag lang rief Hein immer wieder um Hilfe. Als die Schatten länger wurden, kroch er in seinen Schlafsack. Er beobachtete sich genau, wackelte mit den Zehen, um die Durchblutung zu stimulieren und achtete darauf, ob er eine Benommenheit spürte, ein Hinweis auf einen zu starken Blutverlust. Trotzdem schlummerte Hein einige Male ein.
Als es dunkel wurde, kam die Erinnerung an seine Lieben – seinen Vater Doug, seine Mutter Randy, seine Schwester Kristen und seine neue Freundin Katrina. Ob er sie wiedersehen würde? Kristen hatte am Mittwoch Geburtstag. Hoffentlich würde sie diesen Tag nicht lebenslang mit seinem Tod verbinden. Ein Gefühl der Hilflosigkeit machte sich in ihm breit, aber er schob es beiseite und konzentrierte sich darauf zu überleben. Die Temperaturen fielen in dieser Nacht in den einstelligen Bereich. Der 33-Jährige schlief unruhig, heftiges Zittern und sein schmerzendes Bein weckten ihn immer wieder. Zu seiner Erleichterung hatte die Wunde bis Sonntagmorgen fast aufgehört zu bluten. Erneut rief er um Hilfe und blies in die Trillerpfeife die Pausen nutzte er, um sich eine Art Nest zu bauen, einen Schutzwall aus Steinen.
Gegen Mittag nahm Gregg Hein einen sauren, fauligen Geruch wahr. Die Wundränder an seinem verletzten Bein hatten sich verfärbt und eiterten. Eine Infektion könnte zu Wundbrand führen – was nicht nur sein Bein, sondern auch sein Leben in Gefahr bringen würde. Hein quälte sich zu einem kleinen, nur wenige Meter entfernten Schneefeld. Bei jeder Bewegung durchzuckte ihn heftiger Schmerz. Mit Schnee wusch er den Schmutz und das abgestorbene Gewebe ab und packte zusätzlich Schnee auf die Wunde. So könnte das Schmelzwasser weitere Verunreinigungen auswaschen.
Zurück in seinem Nest beobachtete der Verletzte Wolken, die über ihn hinwegzogen. Plötzlich hörte er einen Freudenschrei. Sein Adrenalinspiegel schoss in die Höhe, er schrie um Hilfe und blies in die Pfeife. Doch nach 20 Minuten wurde ihm klar, dass der Wanderer Kilometer entfernt sein musste, und die Akustik, die ihm die Stimme zugetragen hatte, nicht in umgekehrter Richtung funktionierte. Zudem verspürte Gregg Hein nun schrecklichen Durst. Er kroch wieder zu dem Schneefeld, aß so viel Schnee, wie er konnte, und zog sich in seinen Schlafsack zurück. Während die Farbe der Wolken von Rot nach Indigoblau wechselten, fiel er erneut in einen unruhigen Schlaf.
Als der 33-Jährige am Montagmorgen aufwachte, war sein Rachen so ausgetrocknet, dass er kaum noch schlucken konnte. Da hörte er in der Ferne wieder eine Stimme. Sie wiederholte drei Silben. "Wo bist du?", glaubte er zu hören. Er setzte sich in seinem Schlafsack auf, blies in die Trillerpfeife und rief: "Hilfe! Offener Bruch! Canyon Nördlicher Goddard!" Die Stimme wiederholte ihre Frage. Hein antwortete erneut, das Ganze wiederholte sich mehrfach. Bis er erkannte, dass er sich von einem krächzenden Vogel hatte täuschen lassen.
Der Verletzte schluckte seine Enttäuschung hinunter und kontrollierte seine Wunde. Sie sah schlimmer aus als am Vortag. Er würde sie häufiger säubern müssen. Doch ihm graute die Vorstellung, sich über die Felsen schleppen zu müssen. Deshalb füllte er die Kapuze seines Regencapes mit Schnee und deponierte sie im Schatten bei seinem Lager. Jetzt konnte er sein Bein nach Bedarf waschen und trinken, sobald er Durst verspürte.
Doug Hein war inzwischen verärgert über seinen Sohn. Ursprünglich sollte er Montag wieder zurück sein. Als der Vater am Dienstagnachmittag von der Arbeit nach Hause kam und Gregg sich noch nicht gemeldet hatte, begann er, sich Sorgen zu machen. "Obwohl ich wusste, dass Gregg seine Touren manchmal verlängerte", erklärt der 64-Jährige. Außerdem nahm er fälschlicherweise an, dass man eine vermisste Person frühestens nach zwei Tagen suchen lassen könne. Also rief er niemanden an – auch nicht seine Frau Randy, die sich bei einer Schulkonferenz in Las Vegas aufhielt. Er wollte sie nicht beunruhigen.
Dienstagnacht war es kalt auf dem Berg. Gregg Hein fand kaum Schlaf. Zudem konnte er seinen rechten Fuß nicht mehr bewegen. Am nächsten Morgen hatte sich der Zustand des Beines weiter verschlechtert. Er spürte auch, dass er auszutrocknen begann. Gut zwei Kilometer weiter unten am Hang lag ein kleiner See. Die Nächte wären auf dieser Höhe wärmer, überlegte Hein, und er würde dort ausreichend trinken können. Also funktionierte er den Schlafsack zu einer Schlinge für sein Knie um und stabilisierte seinen Fuß mit den Gurten, die er zur Verfügung hatte. Dann kroch er langsam über die Felsbrocken hinweg.
Etwa um dieselbe Zeit rief sein Vater im Büro des County Sheriffs in Fresno an. Nachmittags durchkämmten mehrere Dutzend Freiwillige mit Rangern die Wildnis zwischen Florence Lake und Mount Goddard. Auch Hubschrauber waren im Einsatz. Am Mittwochabend rief Doug Hein seine Frau an, die daraufhin vergeblich versuchte, einen Flug nach Hause zu bekommen. Um zwei Uhr nachts mietete sie schließlich ein Auto und war sechs Stunden später zu Hause.
Gregg Heins Abstieg zum See verlief schleppend. Unterwegs aß er sechs Falter, drei Wasserwanzen, zwei Heuschrecken und einige Ameisen – seit fünf Tagen seine erste Nahrung. Etwa vier Stunden später erreichte der Verwundete das schlammige Ufer des Sees. Er nahm einen tiefen Zug aus einem angrenzenden Bach. Anschließend baute er sich aus Gräsern und Wildkräutern ein neues Nest. Am Rande des Sees erlaubte sich ihr Sohn zum ersten Mal, seinen Gedanken nachzuhängen. Am nächsten Morgen, ein Donnerstag, war sein Bein fast steif. Da hörte der Verletzte ein Brummen und blickte nach oben. In der Ferne war ein Hubschrauber. Zum ersten Mal spürte er Hoffnung in sich aufsteigen. Trotz der brennenden Schmerzen in seinem rechten Bein schleppte er sich auf einen Felsen und winkte mit seinem Schlafsack. Aber der Helikopter verschwand wieder. Als die Stunden vergingen und der Hubschrauber noch vier weitere Male vorbeiflog, ohne ihn zu bemerken, richtete Hein sich auf eine weitere Nacht im Freien ein.
Am selben Nachmittag fuhren Doug und Randy Hein zur Leitstelle der Such- und Rettungsmannschaft. Gegen 19.30 Uhr kam das Ehepaar an. Ein Sergeant zeigte ihnen die für den nächsten Tag geplante Suchroute.
Wenige Minuten später überflog ein anderer Helikopter – diesmal einer vom Yosemite-Nationalpark – das Lager des Verletzten. Der schwenkte seinen Schlafsack. Diesmal sah ihn der Pilot aus dem Fenster und landete den Hubschrauber am See. Gregg Hein musste sich zusammennehmen, um nicht in Tränen auszubrechen, als drei Helfer ihn ins Cockpit hievten.
In der 30 Kilometer entfernten Leitstelle klingelte das Handy des Sergeants. Mit einem erhobenen Daumen drehte er sich zu Greggs Eltern um. Bei Einbruch der Dunkelheit lag ihr Sohn im Krankenhaus in Fresno, umringt von seiner Familie. Im Laufe der nächsten Monate unterzog er sich mehreren Operationen. Sein Bein blieb ihm erhalten.