Gefangen auf dem Grund des Meeres
Bei einem Tauchgang reißt die Versorgungsleitung. Kann Chris Lemons das überleben?

©
Sich von seiner Verlobten zu verabschieden, um zur Arbeit zu gehen, fiel Chris Lemons schwerer als den meisten anderen Menschen. Der Tiefseetaucher war mehrmals im Jahr für vier Wochen unterwegs. Als sich der 32-Jährige im September 2012 auf den Weg machte, um auf dem Grund der Nordsee, etwa 190 Kilometer vor Aberdeen im Nordosten Schottlands, Ölleitungen auszutauschen, versicherte er Morag wie üblich: „Du musst dir keine Sorgen machen. Da wird alles genauestens überwacht.“ „Du wirst mir fehlen”, entgegnete die 39-jährige Schulleiterin. „Melde dich – jeden Tag.
Das Paar hatte sich fünf Jahre zuvor auf einer Party in Dunoon, Schottland, kennengelernt. 2011 absolvierte Chris eine Ausbildung zum Sättigungstaucher – Voraussetzung für die Arbeit an Unterseeleitungen für die Öl- und Gasindustrie. Sättigungstauchen heißt so, weil das Gasgemisch, das der Taucher unter dem starken Druck, der in der Tiefsee herrscht, einatmet, seinen Körper sättigt. Taucht er auf und der Druck lässt nach, kann dieses Atemgas tödliche Blasen im Gewebe verursachen – und die Dekompressionskrankheit auslösen, auch Taucherkrankheit genannt. Sättigungstaucher verringern dieses Risiko, indem sie sich auf dem Tauchschiff ständig in einer Druckkammer aufhalten. Doch Morag wusste, wie viel Chris diese Arbeit bedeutete.
Gefährliche Arbeiten an der Bohrinsel
Bei seinem anstehenden Einsatz sollte Chris zusammen mit Duncan Allcock zusammenarbeiten. Der 50-Jährige tauchte seit mehr als 17 Jahren in der Nordsee. Er war bei den ersten Einsätzen nach Chris’ Lehrgang 18 Monate zuvor sein Mentor gewesen. Die beiden waren Freunde geworden. Drittes Teammitglied sollte David Yuasa sein, von dem Chris wusste, dass er einen ausgezeichneten Ruf genoss. In den ersten Tagen in der Kammer unterhielten sich die Männer über Chris’ Hausbau und die bevorstehende Hochzeit und über Duncans Sohn, der gerade als Taucher anfing. Gegen 21 Uhr am 18. September war Chris’ Team an der Reihe. Die drei stiegen in die Tauchglocke, die an Drahtseilen etwa 75 Meter unter die Topaz abgelassen wurde. Chris und David sollten noch weitere 15 Meter tiefer tauchen, um Leitungen auf dem Meeresgrund auszutauschen.
Die sogenannte Nabelschnur, die in Hüfthöhe an ihren Taucheranzügen befestigt war, verband jeden der beiden Männer mit der Glocke. Über das fünf Zentimeter dicke Leitungsbündel wurde ihnen Luft zugeführt. Außerdem enthielt es eine Kommunikationsverbindung und Strom für die Lampen und Kameras auf ihren Helmen, aber auch warmes Wasser, das ihre Anzüge für die Arbeit auf dem vier Grad kalten Meeresboden wärmte. Den Kern bildete ein stahlverstärktes Seil. Jeder Taucher hatte 50 Meter dieser Lebensader zur Verfügung, die von einer Halterung in der Tauchkugel nach Bedarf ab- und wieder aufgewickelt werden konnte. Dafür war Duncan zuständig.
Raue See, ein gefährlicher Tauchgang
An der Wasseroberfläche schlugen die Wellen vier Meter hoch – raue See, doch für die Topaz kein Problem. Ein dynamisches Positionierungssystem hielt die Topaz an Ort und Stelle, sodass das Schiff keinen Anker brauchte. Sich durch die Luke in den dunklen Ozean gleiten zu lassen, war für Chris stets ein magischer Moment. Im Licht seiner Helmlampe sah er Sedimente und Tiere vorbeischweben. Chris und David begannen mit ihrer Arbeit im sogenannten Manifold, einer neun Meter hohen und 20 Meter langen Konstruktion, deren Rohre und Ventile Öl von der Bohrstelle zur Plattform befördern. Nur ein, zwei Meter entfernt voneinander hantierten die beiden mit ihrem Werkzeug. Die Unterwasserschicht sollte sechs Stunden dauern.
Oben auf dem Schiff saß Einsatzleiter Craig Frederick vor Monitoren, auf denen er sehen konnte, was die Helmkameras der Taucher aufzeichneten. Er verfolgte ihren Fortschritt und gab über die Sprechanlage Anweisungen. Duncan saß währenddessen in der Tauchglocke und überwachte den Sauerstoff- und Kohlendioxidgehalt der Atemluft, konnte aber nicht mit ihnen kommunizieren. Chris hatte etwa eine Stunde gearbeitet, als er aus dem Kontrollraum ein Warnsignal vernahm. Führte die Mannschaft einen Test durch? Gab es auf der Topaz ein ernsthaftes Problem? Das grüne Licht auf der Instrumententafel leuchtete plötzlich gelb und dann rot. „Das habe ich ja noch nie erlebt“, dachte Craig alarmiert. Das Positionierungssystem war ausgefallen. Das Schiff trieb ab – und bald würde es die Taucher mitziehen. „Lasst das Werkzeug fallen und begebt euch in die Glocke“, befahl Craig.
Chris und David hangelten sich an ihren Nabelschnüren nach oben. Chris spürte, wie sich seine Nabelschnur spannte, als er das obere Ende des Manifolds erreichte. Die Schnur hatte sich an einem Metallteil verfangen. Er versuchte, sie zu lösen, aber das gelang nicht.
Das Versorgungskabel reißt
In der Glocke merkte Duncan, dass sich Chris’ Nabelschnur plötzlich straffte. Craig wies ihn an: „Taucher 2, mehr Spiel geben.“ „Geht nicht!“, antwortete Duncan. Die Schnur war nicht nur zu stramm, sie drohte, die Halterung aus der Wand zu reißen. Die Stahlstreben bogen sich, die Bolzen ächzten. Riss die Nabelschnur, würde Chris ohne Sauerstoff abtreiben. Während Chris versuchte, sich zu befreien, bemühte sich David verzweifelt, ihm zu Hilfe zu kommen. Fast hätte er es geschafft. Die Hände der beiden Taucher trennten nur noch wenige Meter, als David von seiner Nabelschnur fortgezogen wurde. Chris sah noch Davids resignierten und bedauernden Blick, bevor er in der Dunkelheit verschwand. Angestrengt versuchte Chris, die Schnur zu lösen. Da hörte er ein unheilvolles Quietschen – dann riss die Luftzufuhr, und gleich darauf die Kommunikationsverbindung. Chris öffnete rasch die Reservesauerstoffflasche auf seinem Rücken, wie er es so oft geübt hatte. Sekunden später riss das Drahtseil, nun war seine Nabelschnur komplett gekappt. Chris sank langsam nach unten. Im Helm war es ohne Sprechanlage still, und der Anzug begann auszukühlen. Chris wusste, dass der Sauerstoff für etwa acht Minuten reichte. In der Glocke holte Duncan hektisch die plötzlich spannungslose Nabelschnur ein. „Ich habe meinen Taucher verloren!“, meldete er Craig.
Chris landete auf dem weichen Meeresgrund. Vom Schiff aus konnte man ihn durch ein Signal orten, das sein Anzug abgab. Er wusste aber auch, dass seine Chancen, gerettet zu werden, bevor ihm der Sauerstoff ausging, besser standen, wenn er nach oben auf das Manifold gelangen könnte. Nur hatte Chris keine Ahnung, wo dieses sich befand. Er entschied sich für eine Richtung und machte kleine Schritte. Plötzlich berührten seine ausgestreckten Hände Metall. Erleichtert atmete er auf. Keuchend begann er, an der Konstruktion nach oben zu klettern. Er stieg auf die Plattform und hielt sich an dem Metallgitter fest. Er ging davon aus, dass seine Luft noch fünf Minuten reichen würde – ein erschreckender Gedanke.
Dabei war die Lage sogar noch schlimmer, als er wissen konnte. Das Schiff war mehr als 200 Meter weit abgetrieben. Die Mannschaft versuchte verzweifelt, es zurückzubringen. Chris’ Angst wich Traurigkeit. Er würde sein Haus nicht fertig sehen und nie Kinder haben. Er spürte eine Enge in der Brust, als ihm der Sauerstoff ausging, merkte noch, wie er langsam das Bewusstsein verlor. Das ferngesteuerte Unterwasserfahrzeug der Topaz wurde von Craig auf die Suche nach Chris geschickt. Es lieferte Bilder, die zeigten, dass er auf dem Metallgitter lag. 16 Minuten waren vergangen, seit das Verbindungskabel gerissen war.
Unglaublich: Chris lebt!
David hatte es mittlerweile zurück in die Glocke geschafft. Er war bereit, Chris zu holen, sobald sie sich in Position gebracht hatten. Craig hielt ihn und Duncan über die Lage der Topaz auf dem Laufenden. „Wir sind gleich da.“ David ging eigentlich schon davon aus, dass er eine Leiche bergen würde. Das Warten war unerträglich, doch sie versuchten, die Hoffnung nicht zu verlieren. Den Technikern der Topaz gelang es, das Positionierungssystem wieder in Gang zu bringen. Inzwischen waren aber mehr als 25 Minuten vergangen, seit Chris’ Nabelschnur gerissen war. Als das Schiff endlich die Position erreicht hatte, tauchte David hinunter und fand Chris auf dem Rücken liegend auf dem Metallgitter. In seinem Helm hatte sich Wasser gesammelt. David schnallte Chris mit einer Rettungsleine an sich fest und begann, sich mit ihm an der Nabelschnur emporzuhangeln. Er war fit, aber Chris war ein großer Kerl – es war, als würde er einen riesigen Seestern transportieren. Bis er Chris endlich in die Glocke schieben konnte, vergingen weitere sechs Minuten.
Duncan löste Chris’ Helm. Sein kahler Schädel war so blau wie eine Jeans. Duncan wusste, dass die Chance, so lange ohne Sauerstoff zu überleben, gering war. Doch er begann trotzdem sicherheitshalber mit der Atemspende. Da geschah das Unglaubliche – Chris holte plötzlich Luft. Er öffnete die
Augen und blinzelte. Duncan hätte am liebsten einen Freudentanz aufgeführt. Für Craig, der über Monitor zusah, war das ein ergreifender Moment. „Geht’s dir gut?“, fragte er über die Sprechanlage – und Chris reckte tatsächlich schwach den Daumen.
Nachdem er Chris’ Anzug mit warmem Wasser geflutet hatte, stellte Duncan ihm einige Fragen.
„Weißt du, wo du bist?“
„Ja.“
„Weißt du, dass deine Nabelschnur gerissen ist?“
„Ja.“
Zurück in der Sättigungskammer des Schiffs wurde Chris medizinisch versorgt. Während der folgenden drei Tage absolvierten die Männer auf der Topaz, die inzwischen in Aberdeen angelegt hatte, die Dekompressionsphase. Duncan zog Chris mit der Atemspende auf. „Knutschen auf einem Tauchgang kommt aber normalerweise nicht in die Tüte, hörst du.“ Wie Chris den Unfall ohne Gehirnschaden überleben konnte, ist unklar. Das Atemluftgemisch der Taucher ist ungefähr viermal so sauerstoffreich wie normale Luft. Vielleicht war sein Körper so gesättigt, dass es ausreichte, um ihn am Leben zu erhalten. Vielleicht hatte auch die Unterkühlung seine Körperfunktionen verlangsamt und bewirkt, dass nur noch die lebenswichtigen Organe mit Sauerstoff versorgt worden waren. Drei Wochen später wurde Chris für gesund erklärt und fuhr mit David und Duncan wieder auf die Nordsee hinaus, um die Arbeiten zu Ende zu bringen. „Ich wollte erst gar keine Nervosität aufkommen lassen“, erklärt Chris, der immer noch als Sättigungstaucher arbeitet.
Im darauffolgenden April heirateten Chris und Morag nicht weit von ihrem Wohnort. „Es war eine ausgelassene Feier“, erinnert sich Morag. „Den Leuten war klar: Diese Hochzeit hätte um ein Haar nicht stattgefunden.“ Inzwischen ist das Haus der beiden fertig und das Paar hat die kleine Eubh adoptiert.