Spannung

Autor: Derek Burnett

Verloren in den Wäldern

Pamela Salant freut sich auf einen ruhigen Abend beim Zelten – doch stattdessen erlebt sie einen Horrortrip.

Der Gipfel des Mount Hood im Bundesstaat Oregon (USA) ist von Schnee bedeckt.
Der Mount Hood im Bundesstaat Oregon, USA

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©iStockphoto.com / Ron and Patty Thomas

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Tag  1

Es schien ein perfektes Wochenende zu werden. Im Juli 2011 waren Pamela Salant und ihr Freund Aric Essig zelten gefahren. Ihr Ziel, der Mount Hood National Forest, lag etwa zwei Auto­stunden östlich von Portland im US-Bundesstaat Oregon. Die 28-jährige Vorschullehrerin und der 31-jährige Angestellte wollten rund vier Kilometer bis zum Bear Lake (Bärensee), wandern, dort übernachten und am Sonntag zurückfahren. Der Tag war sonnig, klar und schön.
Doch während ihrer Wanderung sprachen sie über ihre Beziehung, die regelmäßig endete und wieder begann. Die Spannungen zwischen den beiden nahmen zu. Als sie ihre Ruck­säcke auf dem Zeltplatz am Südufer des Sees absetzten, kochte Salant vor Wut. „Ich schaue mal, ob ich einen besseren Platz für uns finden kann“, sagte sie und stapfte zum westlichen Ufer des Sees. Es war 13 Uhr.
Der Bear Lake ist nur rund 90 Meter lang und dicht von Bäumen gesäumt. Das zwang Salant dazu, immer weiter landeinwärts zu gehen. Sie kletterte auf einen Hügel. Wo sie den See zu erblicken erwartet hatte, sah sie nichts als bewaldete Hänge und in weiter Ferne einen schneebedeckten Gipfel. Salant versuchte, den Weg, den sie gekommen war, durch den dichten Wald zurückzufinden, doch je weiter sie lief, desto unsicherer wurde sie.
„Aric!“, rief sie. „Hilfe!“
Keine Antwort. Sie lief weiter, bis sie auf einen Bachlauf stieß. Sie wusste, dass die Bäche hier nach Norden zum Columbia River flossen, der mehrere Kilometer entfernt war. Doch wie sollte ihr das helfen? Sie kletterte eine Felswand hoch, um sich einen Überblick über die Landschaft zu verschaffen. Sie ließ ihren Blick schweifen: nichts als Bäume. Sie war seit sechs Stunden unterwegs, und die Sonne würde bald untergehen. 
Erneut ergriff sie Panik, also begann sie den Abstieg. Dort, weit unten! Ein See! Aber war es der Bear Lake? Langsam kletterte Salant die Hänge hinab und überquerte die Felsen so vorsichtig, wie sie konnte. Dann passierte es: ein Fehltritt, und Dunkelheit umfing sie.

Als Salant ein paar Minuten später wieder zu Bewusstsein kam, nahm sie als Erstes über sich die Felsklippe wahr, von der sie herabgestürzt war – mehr als zehn Meter über ihr. Dann bemerkte sie, dass ihr linkes Bein unterhalb des Knies seltsam gekrümmt war. „O. k.“, sagte sie sich, „mein Bein ist gebrochen.“ Über­raschenderweise waren die Schmerzen erträglich, und sie analysierte relativ ruhig ihre Si­tuation: Sie war verletzt und allein, es wurde Nacht, und sie hatte keinerlei Ausrüstung bei sich. Sie trug nur Shorts, ein Trägertop, Socken und Schuhe. In der Nähe konnte sie Wasser plätschern hören, vermutlich ein Bach. Sie würde die Nacht an Ort und Stelle bleiben und am Morgen dem Klang des Wassers nachgehen.

Tag  2

Mitten in der Nacht wachte Salant auf und merkte, dass ihr linkes Bein nass war. Stunden später, als die Sonne aufging, sah sie, dass es Blut war. An ihrem rechten Bein entdeckte sie eine klaffende Wunde, aus der Blut über ihr gebrochenes linkes Bein gelaufen war. Sie konnte den weißen Knochen sehen. Wieder verarbeitete sie diesen neuen Schrecken mit einer seltsamen Distanziertheit. „Ich muss ans Wasser kommen. Ich habe Durst, und ich muss die Wunde reinigen.“
Sie schleppte sich rund 400 Meter zum Bach. Für die kurze Strecke brauchte sie eine Stunde, aber sie war guter Dinge. „Schön“, dachte sie. „Entweder führt er mich zurück zum Bear Lake oder zum Columbia River – in beiden Fällen bin ich gerettet.“ Salant trank und säuberte ihre Verletzung. Dann folgte sie dem Bachlauf, wobei sie auf dem Po voranrutschte.
Der Bach, dem Salant folgen wollte, war der Lindsey Creek, der durch eine tiefe Schlucht mit zahlreichen Wasser­fällen zum Columbia River fließt. Dieser Schlucht zu folgen ist so schwierig, dass sie möglicherweise die Erste war, die es je versucht hatte. Trotzdem nahm sie sich einen Moment Zeit, sie zu bewundern. Die Wasserfälle, der uralte Wald – all das erinnerte Salant daran, warum sie so gern in diese Gegend kam.
Den ganzen Tag über bewegte sie sich langsam und vorsichtig die Schlucht hinab. Sie ging methodisch vor, überlegte sich jeden Schritt. Mehrfach überquerte sie den Bach, um Hindernisse zu umgehen. Schließlich gelangte sie auf einen Felsvorsprung und stoppte. Der Weg vorwärts war zu steil, zurück war es zu steil, nach links war es zu steil. Sie könnte am anderen Ufer weiterkommen, doch dazu musste sie den Bach überqueren – der rund 3,5 Meter weiter unten floss. Eine Stunde lang saß 
Salant da und dachte über ihre Lage nach. Dann sprang sie. Sie landete auf dem rechten Bein, kippte zur Seite und tauchte aus dem Wasser auf. 
Am Nachmittag hörte sie einen Hubschrauber. Er flog über sie hinweg, aber die hohen Tannen verdeckten die Sicht. „Vielleicht sollte ich einfach an einer Stelle sitzen bleiben und warten“, dachte sie. Aber nein, dafür war sie zu durchgefroren. Obwohl der Tag warm war, war es in der Schlucht schattig, und sie war immer wieder im kalten Wasser gewesen.
Gegen 16 Uhr, gerade als die Sonne die Schlucht erreichte, fand Salant einen Platz zwischen zwei Bäumen und rollte sich zitternd zusammen, um zu schlafen. Sie zog Streifen trockenen Mooses von einem Felsen und bedeckte damit ihre Beine.

Tag  3

Im ersten Licht der Dämmerung betrachtete Salant ihre Beine. Plötzlich fühlte sie wieder diese seltsame Distanziertheit und eine Art mütterliche Verantwortung für ihre Beine, als ob diese Kinder wären, die an ihrem Rockzipfel hingen. „Mein Gott“, dachte sie, „könnt ihr nicht auf euch selbst aufpassen?“ Irgendwie fühlte sie sich weniger einsam, weil sie sich um jemanden kümmern konnte, selbst wenn es nur ihre eigenen Beine waren. Salant wusch die Wunde und verband sie mit ihrer Unterwäsche. 
Wieder kreiste ein Hubschrauber über ihr, einmal am Morgen und einmal am frühen Nachmittag, doch Salant befand sich nie auf einer Lichtung und konnte sich nicht zu erkennen geben. Und so zog sie weiter. Die junge Frau fand einen Strauch mit rosafarbenen Beeren, der ihr bekannt vorkam. Sie glaubte sich zu erinnern, dass Aric die Pflanze als Prachthimbeere bezeichnet hatte. Sie probierte eine Beere und spuckte sie wieder aus. Salant wartete eine Weile und testete eine andere. Als sie sicher war, dass die Beeren nicht giftig waren, aß sie gierig mehr davon.
Bei Anbruch der Dunkelheit versuchte sie zu schlafen, doch Schmerzen und Angst machten es unmöglich. Sie wünschte sich so sehr, bei Aric und ihrer Familie zu sein, wollte sie umarmen und sagen, wie sehr sie alle liebte. 

Tag  4

Als die Sonne am Dienstagmorgen aufging, biss Salant die Zähne zusammen. „Ich habe genug“, sagte sie. „Ich werde heute gefunden, oder ich werde sterben.“ Sie fand einen flachen Felsen inmitten einer Lichtung – ein guter Platz, um gesehen zu werden. Drei Stunden lang wartete sie, zitternd, hungrig, durstig. Kein Hubschrauber.
Salant kroch ein Stück höher, um in der Sonne zu sitzen. Eine dicke, grüne Raupe krabbelte neben ihr. Sie hob sie auf und biss hinein. Die Raupe verursachte einen metallischen Geschmack in ihrem Mund. „Igitt!“ 
Dann entdeckte sie eine Schnecke. Sie hatte sich schon immer gefragt, wie sie wohl schmecken, und nachdem sie sich das Tier in den Mund gesteckt hatte, wusste sie es. Nie zuvor hatte sie etwas Widerlicheres gekostet. Sie spuckte sie aus und versuchte vergeblich, sich den schleimigen Film mit Wasser von der Zunge zu spülen.

Schupp, schupp, schupp. Ein Hubschrauber! 

Sie rutschte wieder hinunter auf den Felsen, wo sie den Morgen verbracht hatte. Ein Helikopter flog über sie hinweg. Pamela Salant versuchte aufzustehen, fiel aber wieder hin. Dann flog der Hubschrauber davon. 
„Haben sie mich nun gesehen oder nicht?“, fragte sie sich. Auf der anderen Seite des Bachlaufs stand noch ein Prachthimbeerstrauch. „Ich zähle jetzt bis 500, und wenn sie nicht zurückkommen, gehe ich rüber und esse ein paar Beeren.“ Sie zählte so langsam, wie sie konnte und kroch dann auf den Strauch zu – als sie plötzlich hörte, wie jemand sagte: „Sie müssen Pam sein.“
„Was machen Sie denn hier ?“, fragte Salant. Vier Mitglieder eines freiwilligen Bergrettungsteams hatten den Tag damit verbracht, den Lindsey Creek abzusuchen. Sie hielten Funkkontakt mit der Hubschrauberbesatzung, die Salant entdeckt hatte. „Ich kann nicht glauben, dass es Leute gibt, die so etwas machen. Ich liebe euch!“, rief sie.
Eine halbe Stunde später kam ein Rettungshubschrauber. Da es keinen Landeplatz gab, musste die Besatzung eine riskante Bergungsaktion durchführen. Der Rettungssanitäter Ben Sjullie wurde aus einer Höhe von knapp 100 Metern abgeseilt. 
Zehn Minuten später schwebte Salant über den Baumwipfeln. Sicher im Hubschrauber angekommen, zog Sjullie die Tür zu. „Geht es Ihnen gut?“, fragte er. Und zum ersten Mal seit Beginn ihrer Tortur brach Salant zusammen und weinte.
„Ich bin mir nicht sicher, ob sie es von dem Punkt, an dem wir sie gefunden haben, weiter geschafft hätte“, meint Tom Scully, einer der Retter. „Oberhalb und unterhalb dieser Stelle sind Wasserfälle. Noch einen Tag länger, und sie wäre wohl geblieben, wo sie war.“ 
Scully ist beeindruckt, wie weit Salant mit gebrochenem Bein gekommen war. Er beschreibt seinen Weg entlang des Lindsey Creek – mit Kletterausrüstung – als „eine der anstrengendsten Touren, die ich je unternommen habe. Und sie hat das vier Tage lang gemacht, ohne Ausrüstung. Sie ist unglaublich.“

Salant erreichte Aric auf seinem Handy. 

Er hatte das Wochenende über bei der Suche nach ihr geholfen. Jetzt war er unterwegs nach Portland. „Aric“, sagte die junge Frau unter Tränen, „mir geht’s gut.“
„Gott sei Dank, ich bin schon unterwegs zu dir.“ 
Pamela Salant wurde eine Woche später aus dem Krankenhaus entlassen. Neben der Wunde an ihrem rechten Bein und der Tibiakopffraktur unterhalb ihres linken Knies hatte sie Quetschfrakturen an der Wirbelsäule und Schürfwunden erlitten. 
Doch während ihrer Genesung konnte sie nur an den Wald denken – wie friedlich es dort gewesen war, wie sehr sie sich als Teil des Ganzen empfunden hatte. Sobald Salant Krücken verwenden konnte, fuhren sie und Aric wieder zum Zelten. „Willst du das wirklich machen?“, fragten sie ihre Freunde.
„Macht ihr Witze?“, erwiderte Pamela Salant. „Ich kann mir nichts anderes vorstellen.“