Stars im Interview

Autor: Reader's Digest

Sprache lebt

Interview mit Dr. Christine Möhrs, Leibniz-Institut für Deutsche Sprache, zum Thema Entwicklung des Wortschatzes in den vergangenen sieben Jahrzehnten.

© A. Trabold / IDS

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©© A. Trabold / IDS

Reader‘s Digest: Wie wichtig ist es, über einen großen aktiven Wortschatz zu verfügen? Kommt man nicht auch mit 3000 Wörtern gut über die Runden?

Dr. Christine Möhrs: Mit ca. 3000 Wörtern im aktiven Wortschatz bewegt man sich laut Gemeinsamem Europäischen Referenzrahmen (GER) beim Erlernen einer Fremdsprache gerade in einem durchschnittlichen Mittelfeld im Sprachniveau (Stufe B1) und kann sich über vertraute Themen verständigen. Bei der höchsten Sprachniveaustufe beträgt der aktive Wortschatz laut GER ca. 6000 Wörter und Sprecherinnen und Sprecher können sich flüssig verständigen und kommen auch mit feinen Bedeutungsnuancen zurecht. Insgesamt kann der aktive Wortschatz eines Erwachsenen mit z. B. Deutsch als Erstsprache aber individuell auch zwischen 2000 und 12000 schwanken. Je größer der aktive Wortschatz eines Menschen ist, umso vielfältiger kann er sich ausdrücken, umso feiner können Menschen sich in verschiedenen Kontexten, Textsorten, Gesprächssituationen sprachlich verständigen und sich die Welt erschließen.

RD: Wie hat sich der durchschnittliche Wortschatz (der Deutschen) in den zurückliegenden Jahrzehnten entwickelt, nutzen wir denn heute mehr oder weniger Wörter als die Menschen in den 1950er-Jahren?

Dr. Christine Möhrs: In der Zeit seit den 1950er-Jahren bis heute hat sich viel in unserer Gesellschaft ereignet, was dazu führt, dass neue Wörter (Neologismen) den Wortschatz erweitern. Punktuelle Ereignisse prägen aber auch Sprache teils nur punktuell, sodass über Jahre hinweg Wörter auch wieder verschwinden oder veralteten (Archaismen). Gesellschaftliche Umbruchzeiten, wie beispielsweise seit den 1980/90-er-Jahren zu sehen ist, haben viele neue Wörter hervorgebracht, weil Neues in der Welt auch neue Bezeichnungen braucht: Das lässt sich etwa an den Bereichen „Computer/Internet“ (z.B. Doppelklick, E-Mail, googeln), Sport/Freizeit (z.B. inlineskaten, Fanmeile) oder Gesellschaft/demografischer Wandel (Dosenpfand, Riesterrente) besonders gut ablesen. Der sprachliche Wandel aus Wortschatzerweiterung und -abbau geschieht über die Jahren grundsätzlich in Wellen, aber die Neologismenforschung zum Deutschen zu insbesondere den letzten drei Jahrzehnten zeigt eindeutig einen Ausbau des Wortschatzes in sehr unterschiedlichen Lebensbereichen.

RD: Welches sind die größten Einflüsse auf die Weiterentwicklung der Sprache beziehungsweise des individuellen Wortschatzes?

Dr. Christine Möhrs: Ereignisse und Entwicklungen in der Welt, die in positiver wie in negativer Weise vorher nicht dagewesene Eigenschaften besitzen, beeinflussen den Wortschatz. Fragen, Unsicherheiten und vielleicht auch Angst entsteht, wenn Dinge nicht benannt werden können. Wenn Menschen aber etwas (neu) benennen, dann trägt dies dazu bei, dass sie darüber sprechen, sich austauschen können und Angst und Unsicherheiten ein Stück weit abgebaut werden können. Da sich unsere Gesellschaft stetig weiterentwickelt (Digitalisierung, demografischer Wandel etc.) und durch tiefgreifende Ereignisse (Kriege, Klimawandel, Pandemien etc.) beeinflusst wird, schlägt sich dieser Wandel auch in der Sprache nieder, damit das Sein in der Welt Ausdruck erfährt und damit lebbar bleibt und wird. Trotz eines teils unterschiedlichen Verständnisses der Mechanismen des Spracherwerbs sind sich die Forschenden dieses linguistischen Teilbereichs bei einer Sache einig: Die individuelle Sprachentwicklung, durch die der Mensch durch den sprachlichen Input schon in den ersten drei, überaus prägenden Lebensjahren geformt wird und der in den darauffolgenden Entwicklungsjahren eine Erweiterung bei komplexeren Konstruktionen erfährt (Lexikon-Grammatik-Kontinuum), ist für die spätere sprachliche Entwicklung des Menschen ausschlaggebend. Neben dem gesellschaftlichen Wandel und dem Sprachwandel begleiten dann der persönliche Horizont, die Ausbildung, das Berufsleben etc. das Individuum beim Aus- und Umbau des individuellen Wortschatzes ein Leben lang. Das Maß der Teilhabe an Gesellschaft, Kultur und Bildung tragen dann über die Lebensjahre hinweg zur Weiterentwicklung des Wortschatzes, aber natürlich auch der Konversationsfähigkeit insgesamt, bei.