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Autor: Reader's Digest Book

Das Geheimnis der Stradivari-Violine

Jahrelang gab es Zweifel an der Echtheit der berühmten Stradivari, die „Messias“ genannt wird. Eine Expertise sollte Klarheit schaffen.

© iStockfoto.com / brebca

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Der Traum eines jeden Violinisten ist es, einmal auf einer Stradivari zu spielen. Die Instrumente des Italieners Antonio Stradivari gehören zum Feinsten und Edelsten, was die Welt der Musik zu bieten hat. Bis heute ist das Geheimnis ihres einzigartigen Klanges nicht geklärt. 1200 Instrumente sollen bis zu seinem Tod am 18. Dezember 1737 in seiner Werkstatt geschaffen worden sein. Von diesen gibt es heute noch etwa 650 Exemplare. Wer sich den Luxus leisten will, eine echte Stradivari zu erwerben, sollte dafür auf seinem Konto einen Betrag in Millionenhöhe vorrätig haben. Wenig Zweck hat es allerdings, an den Kauf einer Stradivari mit dem Beinamen „Messias“ zu denken. Bei diesem Prunkstück handelt es sich um ein unveräußerliches Instrument. Ihren exklusiven Stammplatz hat die Geige seit Langem in einer versiegelten Vitrine des Ashmolean Museums in Oxford. Sie gilt als das absolute Spitzenprodukt aus dem Hause Stradivari und soll das einzige Instrument gewesen sein, das Stradivari niemals verkaufen wollte.

Echt oder unecht

Immer wieder aber kamen in der Vergangenheit Zweifel an ihrer Echtheit auf. Wurde sie tatsächlich 1716 gebaut und erst 1775 von Stradivaris Sohn verkauft, wie es offiziell hieß? Oder handelt es sich um eine Fälschung? Jedenfalls war es erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts möglich, das wertvolle Stück in Augenschein zu nehmen. Ihren Namen bekam die Geige, als sie sich im Besitz des bekannten Sammlers Luigi Tarisio (1790–1854) befand. Gegenüber einem Violinisten pries er ihre Qualitäten, lehnte aber ab, sie dem Musiker zu zeigen, woraufhin dieser verzweifelt ausrief: „Die Violine ist wie der Messias. Er wird ständig erwartet, erscheint aber nie.“ 1890 wechselte sie für die stattliche Summe von 2000 Pfund den Besitzer. Damals soll auch zum letzten Mal ein Musiker auf ihr gespielt haben. Hinterher schwärmte er von ihr in den höchsten Tönen und pries ihre „Lieblichkeit und Erhabenheit“. 1939 wurde sie von der britischen Familie Hill dem Ashmolean Museum gestiftet.

Expertise: Unecht

Im Juli 1997 untersuchte der New Yorker Musikwissenschaftler Stewart Pollens in Oxford die Messias-Stradivari für einen geplanten Bildband. Eigentlich wollte er nur Fotos machen. Stutzig wurde er, als er eine Markierung bemerkte, von der in den frühesten Beschreibungen der Geige keine Rede gewesen war. Auch registrierte der Stradivari- Fachmann einige Abweichungen von der üblichen Herstellungsweise der Instrumente des italienischen Meisters. Um endlich Klarheit zu schaffen, veranlasste Pollens eine dendrochronologische Analyse. Bei dieser, in der Archäologie häufig angewandten Methode der Datierung von Gegenständen aus Holz werden die im untersuchten Holz erkennbaren Jahresringe einem chronologischen Raster zugeordnet. Das Ergebnis der Untersuchung an der Universität Hamburg war für die Verfechter der Echtheit ein harter Schlag. Der Baum, der das Holz für die „Messias“ geliefert hatte, war offenbar nicht vor 1738 gefällt worden. Antonio Stradivari aber war bereits ein Jahr zuvor im gesegneten Alter von 93 Jahren gestorben.

Expertise: Echt

Dieses Ergebnis ließ die Gegenseite nicht ruhen. Experten verglichen das Holz der „Messias“ mit dem Material anderer Stradivaris und von Instrumenten aus anderen Werkstätten aus jener Zeit. Alle Geigen, auch die „Messias“, waren aus Holz hergestellt worden, das aus den Ötztaler Alpen stammte. Es konnte sogar wahrscheinlich gemacht werden, dass die fragliche Geige und zwei andere Geigen, die ganz sicher Stradivaris waren, aus ein und demselben Holz gefertigt worden waren. Auch unterzogen die Forscher die „Messias“ einer dendrochronologischen Untersuchung, wobei sie mit einer Software von hohem Auflösungsgrad arbeiteten. Das Resultat wich erheblich von dem der ersten Studie ab: Der jüngste feststellbare Baumring auf der „Messias“ datiert auf das Jahr 1682. Da war Stradivari 39 Jahre alt gewesen und hätte genug Zeit gehabt, bis zum überlieferten Jahr 1716 aus dem fraglichen Holz ein Wunderwerk des Instrumentenbaus zu zaubern.

Begriffserklärung: Dendrochronologie

Die Dendrochronologie (von griechischem Wort dendron für „Baum“ abgeleitet) untersucht anhand von Jahresringen das Alter von Materialien, die aus Holz gefertigt sind. Bäume aus derselben Gegend entwickeln ein identisches Muster an solchen Ringen. Indem man die Zeitspanne in die Vergangenheit ausdehnt, gewinnt man durch die Überlappungen von Ringsequenzen ein messbares Raster. Wenn für ein bestimmtes Gebiet einmal ein solches chronologisches Raster vorliegt, kann jede neue Holzprobe anhand der vorliegenden Daten zeitlich bestimmt werden. Da Holz in der Geschichte in vielen Zusammenhängen benutzt wurde, etwa beim Bau von Häusern, Brücken oder Schiffen, gibt es die vielfältigsten Einsatzmöglichkeiten der Dendrochronologie. Inzwischen können die Wissenschaftler dank der Jahresringrechnung Funde bis zu einem Alter von 14.000 Jahren bestimmen. Wichtige Instrumente bei der Methode der Dendrochronologie sind Mikroskop und Computer.