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Autor: Nick Morgan

Graffiti: Kunst aus der Dose

Früher galt Street-Art als Zeichen städtischen Verfalls, heute ist sie eine Kunstform.

Graffiti: Kunst aus der Dose

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©istockfoto.com / kostenkodesign

Als sich Aileen Makin am 9. Dezember 2020 im englischen Bristol schlafen legte, war ihr Haus rund 350.000 Euro wert. Als sie aufwachte, war der Wert auf fast 6 Millionen Euro gestiegen. Über Nacht hatte der berühmte Straßenkünstler Banksy auf die Wand ihres Hauses eine alte Frau gesprüht, die so heftig niest, dass ihr das Gebiss aus dem Mund fliegt. Während sich eine Menschenmenge ansammelte, befestigte ein Freund eine Plexiglasscheibe über dem Kunstwerk und beauftragte einen Sicherheitsdienst, um es vor Vandalismus zu schützen. Dank des Erfolgs des mysteriösen britischen „Guerilla“-Künstlers in den letzten drei Jahrzehnten gilt Graffiti nicht mehr als Vandalismus. Riikka Kuittinen, Autorin des Buches Street Art: Contemporary Prints, sagt: „Street-Art hat sich zu einem neuen, globalen Kunstphänomen entwickelt. Ging es dabei früher um den Künstler selbst oder darum, ein Territorium zu markieren, ist die Kunst heute nach außen gerichtet und kommentiert die Gesellschaft, in der wir leben.“

Die besten Künstler haben große Fangemeinden in den sozialen Medien. Kunstwerke, die am nächsten Tag entfernt werden, bleiben auf Instagram erhalten. Sie verdienen auch viel Geld mit dem Verkauf von Drucken, T-Shirts oder Stickern. Damit umgehen sie Galerien, die traditionsgemäß Vermittler sind zwischen Künstlern und Käufern. Was braucht es, um in dieser Kunstform zu glänzen? Fünf der bekanntesten Street-Art-Künstler in Europa erzählen.

Millo, Italien

Millo, 42 Jahre, aus Mesagne, Apulien, beginnt in der Regel mit einer in Schwarz-Weiß gemalten Stadtszene. Dieser fügt er Figuren im Format eines Godzilla hinzu. Anstatt aber die Stadt zu terrorisieren, nehmen diese ein Bad in der Badewanne oder lassen sich die Haare schneiden. Nach dem Architekturstudium war Millo (Francesco Camillo Giorgino) enttäuscht von der Bürokratie und wollte sich beruflich neu orientieren. Vor elf Jahren erhielt er den Auftrag, für ein Kunstfestival eine Mauer im Dorf Montone zu gestalten. „Auf der Backsteinmauer wuchsen Kapernsträucher. Also sprühte ich eine gigantische, nackte Figur, die die Pflanzen aß. Die älteren Damen im Ort lachten über die Größe des Penis.“
Bald bevölkerte eine ganze Familie von Charakteren den urbanen Dschungel. „Hohe Mauern ohne Fenster sind die besten Leinwände für meine Stadtlandschaften, doch ich passe meine Arbeit immer der jeweiligen Oberfläche an.“ Millo erhält Aufträge aus der ganzen Welt. Manche Werke verkauft er in Galerien: Drucke kosten um die 600 Euro. Oft sind seine Arbeiten binnen Minuten verkauft – und tauchen später bei eBay für das Dreifache auf.

Fin DAC, Irland

Der in Cork lebende Fin DAC (bürgerlich: Finbarr Notte) sprüht großflächige Wandbilder von modernen Frauen in traditioneller und volkstümlicher Kleidung aus aller Welt. Seine limitierten Drucke sind innerhalb weniger Minuten ausverkauft – Tausende von Online-Käufern bieten mit. Die Karriere des Autodidakten begann 2008 und nahm richtig Fahrt auf, als er anfing, mit farbigen „Masken“ zu experimentieren, die er über die Augen seiner Figuren spritzte. Schnell entwickelte sich daraus sein Leitmotiv. „Ich brauchte etwas, das meine Arbeit von denen anderer unterschied“, sagt der heute 54-Jährige. „Eine visuelle Identität.“ Inspiriert hat ihn die Gesichtsbemalung indigener Völker, die Figur der Pris aus dem Film Blade Runner und die Musikerin Annie Lennox. Die zu seinem Markenzeichen gewordene Maske verleiht seinen Figuren eine Aura von Kraft und innerer Stärke.

Lidia Cao, Spanien

Mit ihren 24 Jahren gilt Lidia Cao aus La Coruña als eine der wichtigsten weiblichen Street-Art-Künstlerinnen.Sie bevorzugt blasse Farben (in der Street-Art eine Seltenheit). Frauen sind das zentrale Thema ihrer erzählerischen Arbeiten. Für das Wandmalerei-Festival Parees in Oviedo sprühte sie die spanische Schriftstellerin Dolores Medio, deren Werke unter der Franco-Diktatur zensiert worden waren. Lidia stellt sie an ihrer Schreibmaschine arbeitend dar. Auf jeder ihrer Schultern kauert ein Geier, bereit, ihre Worte zu zerpflücken.
2019 schuf sie für das Rexenera-Festival in Galizien A Stolen Childhood (eine gestohlene Kindheit). Es zeigt ein ernst aussehendes Mädchen mit Vogelhäuschen. Darauf sitzt ein Raubvogel mit einem rauchenden Streichholz im Schnabel. Das Bild handelt von Missbrauch und Widerstandskraft. „Mit der weiblichen Figur erzähle ich eine persönliche Geschichte jenseits simpler Ästhetik“, sagt sie. Zu sehen sind Lidias Werke in Spanien, Portugal, Frankreich und der Schweiz.

Blek le Rat, Frankreich

Vor vier Jahrzehnten begann Xavier Prous Karriere, indem er seine Heimatstadt Paris binnen drei Jahren mit Millionen von Ratten überschwemmte. Inspiriert wurde er von Jugendlichen, die er 1982 in einem kleinen Park hinter einem Supermarkt beobachtete. Sie hatten Farbe und Pinsel gefunden und malten ihre Namen, abstrakte Formen und Smileys an die Wand eines Schuppens. Diese erinnerten Xavier an die Kürzel von Gangmitgliedern, mit denen die U-Bahn-Waggons in New York bemalt waren. Doch was er hier sah, hatte eine spielerischere, eine positivere Energie. Später fertigte er die Schablone einer Ratte an, und sprühte sie mit schwarzer Farbe auf Wände. Seine Arbeit signierte er mit „Blek le Rat“. „Ich wollte sagen: ,Eure Stadt ist schön, aber unter euren Füßen ist eine Stadt voller wilder Tiere‘“, sagt Xavier, der heute 70 und immer noch aktiv ist. Dann ging er zu lebensgroßen Figuren über. Am liebsten sprühte er Napoleon mit einem Schaf im Schlepptau oder einen Motorradhelm tragend. „Ich mag Napoleon nicht“, sagt Xavier. „Er tötete Millionen Franzosen. Deshalb lasse ich ihn lächerlich aussehen.“ Wegen seiner Arbeit geriet Xavier häufig in Konflikt mit der Polizei, aber er bereut nichts. „Die Kunst ist an einem Wendepunkt angelangt“, sagt er. „Graffiti-Kunst wird alles verändern.“

MadC, Deutschland

Mit 16 Jahren sprühte Claudia Walde aus Bautzen ihren Namen an eine Wand. „Aber das war gar nicht so einfach. Ich fand Gleichgesinnte, brach aus dem Kleinstadtleben aus und betrat eine kosmopolitische Welt, um meine Identität als Künstlerin zu finden und respektiert zu werden.“ Waldes Leidenschaft brachte ihr den Spitznamen „The Mad One“ (die Verrückte) ein, der im Laufe der Zeit zu MadC wurde. Sie studierte in Halle und London. Ihr Durchbruch kam mit der Genehmigung, eine Wand von fast 700 Quadratmeter Fläche entlang der Bahnstrecke Halle–Berlin zu verzieren. „Das war anstrengend, vier Monate lang auf Leitern zu stehen. Aber ich experimentierte mit verschiedenen Techniken und fand meinen Stil.“
Heute sprüht MadC Buchstaben und Wörter, abstrahiert in leuchtenden Farben mit durchscheinenden Schichten. Die inzwischen 41-Jährige erhält Aufträge für Wandgemälde aus der ganzen Welt und stellt in Galerien Arbeiten auf Leinwand aus. „Doch die Energie der Straße ist die Kraft, die alles, was ich tue, antreibt.“

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