Einsatz am Limit
Für die Bergung eines Skifahrers aus einem Gletscherbach riskiert Bergführer Thomas Zumtaugwald sein Leben.
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Ob die Forellen an jenem Tag gut angebissen haben, daran kann sich Thomas Zumtaugwald nicht mehr erinnern. Aber daran, dass an diesem 1. Mai 2022 um 10.50 Uhr sein Telefon klingelt, als er an der Vispa gerade die Angel auswirft. Und dass der Kollege von der Rettungszentrale dran ist. Zumtaugwald, Bergführer und Rettungsspezialist in Zermatt, Schweiz, arbeitet an diesem Sonntag eigentlich nicht. Doch er hat angeboten, einzuspringen, falls Not am Mann sein sollte. „Wir waren wegen der Schulferien nicht voll besetzt. Gleichzeitig kommt es in dieser Jahreszeit häufig zu Lawinenverschüttungen oder Spaltenstürzen, bei denen es für die Rettung mehr Leute braucht“, erklärt der 41-Jährige.
Der Kollege am Telefon berichtet, dass zwei Variantenskifahrer auf dem Furgggletscher unterwegs waren, als unter ihnen plötzlich die Schneedecke einbrach: Einer der beiden konnte rechtzeitig stoppen. Der andere fiel in den darunter fließenden Gletscherbach, der Geröll und Steine mitführte. In Zermatt steht das Thermometer an jenem Tag bei 18 Grad. „Weil es so warm war, hat sich zwischen Bach und Schneedecke ein Hohlraum gebildet“, erklärt Zumtaugwald. Und er weiß: Der unterirdische Bach kann einen Menschen Hunderte Meter mitreißen, sodass es schwer sein wird, diesen zu orten. Das Wasser ist etwa vier Grad kalt. Lange überlebt darin niemand.
Jetzt muss es schnell gehen!
Sofort packt der Angler seine Sachen zusammen und steigt ins Auto. „Holt mich mit dem Heli zu Hause ab“, weist Zumtaugwald den Kollegen an. Als er die Unfallstelle erreicht, befinden sich bereits acht weitere Helfer vor Ort: drei Rettungsspezialisten wie er, zwei Flughelfer der Air Zermatt und drei Bergführer, die wegen eines Sport-Events zufällig in der Nähe waren. Der verunglückte Skifahrer war ohne Ortungsgerät unterwegs. Wie durch ein Wunder fanden die Retter ihn mithilfe einer Sondierstange. Sie haben ein Loch gegraben und stehen in Rufkontakt zum Verunfallten. Dieser ist bereits mehr als eine Stunde im Wasser, als Zumtaugwald eintrifft, gibt aber noch Antwort. Die Retter lassen ein Seil zu ihm hinunter. Er soll es sich um die Hüfte binden, damit sie ihn hochziehen können. Doch dann verlassen ihn seine Kräfte. Er verstummt. Jetzt muss es sehr schnell gehen. Ein Rettungstaucher muss her, der sich durch das Wasser zum Verunfallten abseilen kann. „Unten im Tal stand einer bereit, aber es hätte bestimmt noch 20 Minuten gedauert, bis er hier gewesen wäre“, sagt Thomas Zumtaugwald. Zu lange. Er weiß: Jemand muss jetzt runter und den Mann raufholen. Er spricht es aus. Doch keiner meldet sich freiwillig.
Thomas Zumtaugwald blickt zum Begleiter des Unfallopfers. Wie er da steht, etwas abseits, unverletzt, und das Geschehen beobachtet. Wie er um das Leben seines Gefährten bangt. „Als ich ihn sah, war mir klar, dass wir nichts unversucht lassen dürfen. Ich habe gesagt ‚Ich muss es machen‘.“
„Zieht ihn hoch!“
Ob der Verunglückte überhaupt noch am Leben ist, weiß zu diesem Zeitpunkt niemand. „Das ist für die Bergung auch nicht wichtig. Für uns ist einer erst tot, wenn der Arzt sagt, er ist tot.“ Auch an sein eigenes Leben denkt der junge Retter und Vater von zwei Kindern in diesem Moment nicht. Er hat keine Angst. Er vertraut darauf, dass seine Kollegen ihn wieder hochholen. Er steigt ins Geschirr und lässt sich durch den Wasserfall abseilen. Das eiskalte Gletscherwasser fließt ihm in den Nacken, unter die Kleidung, raubt ihm fast den Atem. Nach etwa zehn Metern landet er auf einer Art Podest. Er schaut sich um. Es ist stockfinster. Dann plötzlich sieht er etwas Weißes schimmern: einen Skischuh des Opfers. Zumtaugwald tastet sich mit den Händen vor, um herauszufinden, wie der Verunglückte liegt. „Seinen Kopf hatte er zum Glück zurückgestreckt, sodass er nicht unter Wasser war.“ Zumtaugwald prüft nicht, ob der Verunfallte noch lebt. „Dafür war keine Zeit“, berichtet er. Er zieht dem schlaffen Körper ein sogenanntes Dreiecktuch an, befestigt mit dem Karabiner das Seil. „Zieht ihn hoch!“, funkt er nach oben.
Erst in diesem Moment, alleine dort unten, wird dem Retter bewusst, was alles schiefgehen könnte. „Ich fing an zu zittern und spürte meine Finger nicht mehr. Mir wurde schwindlig. Ich begriff erst jetzt, wie viel Geröll der Bach mitführt und wie leicht ich von einem Stein erschlagen werden könnte.“ Zumtaugwald bekommt Angst. „Macht schneller, zieht mich hoch“, funkt er seinen Kollegen. Die wenigen Minuten kommen ihm wie eine Ewigkeit vor. Als er endlich seinen Kopf aus dem Loch streckt, trifft ihn der Abwind des Helikopters, der über der Unfallstelle schwebt. „Ich habe noch nie in meinem Leben so gefroren“, bekennt Zumtaugwald. Seine Kollegen halten trockene Kleidung und Wärmepads bereit.
Vom Arzt erfährt er später: Der gerettete Mann, ein 60-jähriger Italiener aus dem Aostatal, hat überlebt. Seine Körpertemperatur lag nur noch bei 26 Grad. Ein paar Minuten länger dort unten, und er wäre erfroren. Für seine mutige Tat wurde Thomas Zumtaugwald 2023 mit dem Prix Courage der Zeitschrift Beobachter ausgezeichnet. Vom Geretteten erhielten er und seine Kollegen eine Einladung ins Aostatal, wo sich dessen betagte Eltern bei einem Abendessen überschwänglich bedankten. „Das war sehr berührend und speziell. Es ist selten, dass jemand sich bei uns bedankt“, betont er. Und fügt hinzu: „Das erwarten wir aber auch nicht. Wir machen nur unseren Job.“ – Und manchmal eben auch ein bisschen mehr.






