Keiner bleibt zurück!
Dank des Personals wurden alle Bewohner eines Altenheims nahe Valencia gerettet, bevor Überschwemmungen und Schlamm das Haus verwüsteten.
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Besorgt beobachteten die Einwohner der Provinz Valencia die schieferfarbenen Wolken, die sich am Himmel zusammenzogen. Um 7.30 Uhr am 29. Oktober 2024 hatte die staatliche meteorologische Agentur die Alarmstufe Rot für sintflutartige Regenfälle in mehreren Gebieten der spanischen Provinz ausgelöst.
In dem Ort Sedaví, südlich der Stadt Valencia gelegen, hatte Ana Belén Calero, zweifache Mutter, gerade ihren Arbeitstag als Koordinatorin in Novaedat begonnen, einem dreistöckigen Altenpflegeheim. Normalerweise verlief das Leben dort ruhig, aber an diesem Tag klingelte das Telefon öfter als sonst. Verwandte riefen an und teilten mit, dass in anderen Städten der Provinz Valencia schwere Regenfälle eingesetzt hätten.
Sedaví, eine schmale, lang gestreckte Gemeinde mit mehr als 10.000 Einwohnern, wird im Norden vom Fluss Turia und im Süden von der Poyo-Schlucht, einem trockenen Flussbett, begrenzt. Ana Belén schaute aus dem Fenster, aber der Himmel über Sedaví war noch klar. Die 47-Jährige war erleichtert, und der Nachmittag verging wie immer. Der größte Teil der täglichen Arbeit fand im Erdgeschoss statt, wo sich die Büros, die Waschküche, das Wohnzimmer, die Küche und der Speisesaal befinden.
In den Nachrichten wurde gemeldet, dass der viele Regen einige Schluchten überflutet hatte. Die erste betroffene Stadt war Utiel, etwa 80 Kilometer
westlich von Valencia: Fernsehbilder zeigten, wie Autos und Möbel weggeschwemmt wurden. Ana und ihre Kolleginnen machten sich zunehmend Sorgen. Gegen 18.30 Uhr teilte ihnen eine Kollegin mit, dass sie es nicht geschafft hatte, nach Hause zu fahren, weil sie nicht in ihr Dorf kam. Noch fiel in Sedaví kein Tropfen Regen, aber die Frauen beschlossen, das Abendessen vorzuverlegen, falls es zu Stromausfällen kommen sollte.
Die 70 Bewohnerinnen und Bewohner aßen in Ruhe, als alle Mobiltelefone gleichzeitig zu klingeln begannen: Es war der Alarm des Katastrophenschutzes.
Die Schlucht von Poyo war überflutet und eine Lawine aus Wasser und Schlamm breitete sich in Sedaví aus. Die Anrufe häuften sich: „Das Wasser kommt, das Wasser kommt“.
Um 20.15 Uhr wurde das Essen abgebrochen. Einige beschwerten sich, weil sie noch keinen Nachtisch bekommen hatten, aber Ana Belén sah ihr Team an: Sie mussten alle nach oben bringen. Als das Wasser unter der Tür durchsickerte, begannen zehn Angestellte und sechs Familienangehörige, die zu Besuch waren, die älteren Menschen zu mobilisieren. Die meisten von ihnen saßen in Rollstühlen oder stützten sich auf Rollatoren. Sie trauten sich nicht, die Aufzüge zu nutzen, da der Strom ausfallen könnte. Entschlossen trug die Gruppe die Seniorinnen und Senioren nach und nach hinauf – auf den Armen, auf dem Rücken, auf den Schultern: nicht ein, sondern zwei Stockwerke, nur für den Fall.
Panik breitete sich unter den Älteren aus. Ein Mann rief: „Ihr schafft es nicht, mich da hochzubringen!“ Ein anderer meinte: „Lasst mich, ich bin ja sehr alt.“ Doch Ana Belén entgegnete: „Hier bleibt keiner zurück!“ Das Wasser floss weiter, heftig und schnell. Als der Strom ausfiel, wurden die letzten im Dunkeln Verbliebenen nach oben befördert.
Gegen 21.15 Uhr zersprangen die Fenster im Erdgeschoss, eine Flutwelle brach herein. Im zweiten Stock begann das Personal mit der Zählung. Tastend, einen nach dem anderen, ging man die anwesenden Personen durch. Es waren alle da und es ging ihnen gut. Ana und das Team leuchteten mit ihren Handy-Taschenlampen auf die Frauen und Männer und versuchten, sie zu beruhigen und ins Bett zu bringen. Doch die Angst war noch nicht vorbei. Würde das Wasser den ersten Stock erreichen? Oder den zweiten? Ohne Trinkwasser, unter dem beängstigenden Dröhnen der Flut und den auf der Straße zusammenstoßenden Autos vergingen die Stunden langsam. Um vier Uhr morgens begann der Wasserstand, der einen halben Meter erreicht hatte, zu sinken. Alle seufzten erschöpft auf.
Am nächsten Morgen wurde das Ausmaß der Katastrophe deutlich: Das Erdgeschoss hatte sich in einen Sumpf verwandelt, überall Scherben, kaputte Möbel und zerstörte Wände. Durch die Fenster blickten sie auf verlassene, schlammige Straßen, Häuser ohne Türen und übereinander gestapelte Autos.
Unzählige Menschen kamen, um zu helfen, brachten Generatoren, Sauerstoffflaschen und Lebensmittel. Ana Belén fragte sich, ob ihr eigenes Haus beschädigt worden war, aber das musste warten. Obwohl sie seit mehr als 24 Stunden nicht mehr geschlafen hatte, wollte sie nicht gehen. Sie half beim Servieren des Frühstücks: Lebensmittel und Wasser, die mühsam herantransportiert worden waren.
Fernsehteams vor der Residenz fingen die Worte der Helfenden ein. „Sie sind alle am Leben“, erklärten diese froh. „Ihr habt sie eigenhändig hochgetragen? Einen nach dem anderen?“, wollten die Reporterinnen und Reporter wissen. Ana Belén findet das nicht außergewöhnlich. Sie und ihr Team haben getan, was sie tun mussten: Sie kümmerten sich um die Seniorinnen und Senioren, wie immer.
Die Überschwemmung betraf 87 Gemeinden, forderte 227 Leben, beschädigte mehr als 100 000 Häuser und 200 000 Fahrzeuge. Einige Monate später war die Residenz wiederhergestellt. Aber noch heute wird über die schreckliche Nacht gesprochen, und manchmal heißt es scherzhaft: „Ihr habt uns ohne Nachtisch zurückgelassen!“





