Helden des Alltags

Autor: Stefan Müller

Blitzschnell reagiert

Alina Theiler rettet zwei Kinder aus dem tödlichen Sog einer Wasserwalze.

Alina Theiler vor dem gefährlichen Wehr

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©Barbara Masternak

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Alina Theiler ist nur zufällig gerade dort, als sich am 19. Juli 2022 das Unglück ereignet – an der Kleinen Emme im Luzernischen Wolhusen in der Schweiz, wo noch manche Industriebauten aus dem letzten Jahrhundert das Dorfbild prägen. Die Sonne brennt vom Himmel an diesem Dienstag. „Es war mega Zufall, dass ich am Nachmittag freihatte“, erinnert sich die heute 19-Jährige, die in Luzern eine Lehre als Augenoptikerin macht. „Im Geschäft lief nicht viel und der Chef hat mir freigegeben.“

Ihr Bruder möchte unbedingt baden gehen, aber nicht allein. „Kommst du mit?“, drängelt er seine damals 16-jährige Schwester. Alina lässt sich schließlich vom drei Jahre jüngeren Andrin überreden. Die zwei packen die Sachen und begeben sich an ihre Lieblingsstelle am Fluss, einen Steinwurf von ihrem Elternhaus entfernt. Dort gibt es eine Wasserschwelle im Flussbett, darunter bildet sich ein kleiner See.
Nachdem sich die Geschwister im Wasser ausgetobt haben, machen sie es sich gemütlich auf den großen, trockenen Steinen, ausgerüstet mit Essen und Trinken. „Gibst du mir mal die Chips?“, ruft Andrin seiner Schwester zu, die gerade einen Schluck Eistee nimmt. Im Hintergrund raunt Taylor Swift aus ihrem Lautsprecher. Die Teenager genießen ihre freie Zeit. 
Es ist etwa vier Uhr, als Andrin plötzlich Hilfeschreie hört. Die Geschwister sehen, dass unterhalb der Wasserschwelle eine Frau mit den Armen rudert. Ihr Kopf taucht immer wieder ab. Zwei Kinder klammern sich an ihr fest. Die Frau hat offenbar den Halt verloren und wird durch den Sog zu den herunterströmenden Wassermassen gezogen. Blitzartig wird Alina bewusst, dass außer ihr und ihrem Bruder niemand da ist, der helfen könnte. Zum Glück weiß sie von ihrer Mutter, einer ausgebildeten Rettungsschwimmerin, worauf sie achten muss. Zum Beispiel darauf, sich nicht von der ertrinkenden Person hinunterziehen zu lassen. Als Volleyballerin ist Alina zudem gut trainiert. 

Es bleibt keine Zeit zum Überlegen. 

Im Nu rennen die Jugendlichen barfuß über die harten Steine zum Ufer. Der Bruder bleibt sicherheitshalber am Ufer. Alina springt so rasant wie nie ins Wasser. Innerlich aber ist sie ruhig und konzentriert. Sie weiß, dass es hier schnell tief wird. Wer sich nicht auskennt, ist überrascht, wenn er mit einem Mal keinen Boden mehr unter den Füßen hat. Mit wenigen Zügen schwimmt Alina zu den Ertrinkenden und streckt ihre Hand aus. Das erste Kind greift sofort danach, sodass Alina es zu sich ziehen kann. Sie muss dabei gut aufpassen, dass sich der Kleine nicht direkt an ihr festklammert und auch sie in Gefahr bringt. Sein Kopf geht nochmals kurz unter. Hustend und nach Luft schnappend taucht er wieder auf, schon strecken sich dem Jungen die Hände von Andrin entgegen, der inzwischen ein Stück weit ins Wasser gewatet ist, und ihn nun schnell in Sicherheit bringt. 

Das zweite Kind bergen Alina und Andrin auf die gleiche Weise. Die Frau schafft es schließlich mit letzter Kraft, allein ans Ufer zu gelangen. Anschließend sitzen die Verunglückten zitternd und erschöpft auf den Ufersteinen, eingemummelt in ihre Badetücher. Die Kleinen beruhigen sich rasch. Nicht so die Frau, die die Aufsicht über die beiden sechs- und achtjährigen Kinder hat: „Wieso habe ich nicht besser aufgepasst?“, wirft sie sich verzweifelt vor. Die Mitdreißigerin war mit dem eigenen Kind und zwei Nachbarskindern, die ihr anvertraut worden waren, zum Baden hierhergekommen. Ihr eigenes Kind hat am Ufer gespielt, ohne das Drama im Wasser zu bemerken. 

Minuten später sind auch die Nachbarn vor Ort

Wenige Minuten später eilen Nachbarn heran, die auf den Vorfall aufmerksam geworden sind. Alle stehen aufgeregt im Kreis, loben die Geschwister und kümmern sich um die Geretteten. Medizinische Hilfe benötigt niemand. An der Emme kommt es immer wieder zu Badeunfällen. Die Strömung kann einen jederzeit mitreißen, insbesondere bei höherem Wasserstand. An jener Stelle in Wolhusen gibt es weder eine Badeaufsicht, noch ist sie irgendwie gesichert. Man badet auf eigene Verantwortung, entsprechende Warntafeln säumen das Ufer. 

Nach der Rettungsaktion gehen die Geschwister schnurstracks nach Hause und berichten ihrer Mutter aufgewühlt von dem Erlebnis. Sie fragen sich, wie es zu diesem Unglück kommen konnte. „Die Frau konnte doch schwimmen“, sagt Alina. „Aber die Kinder haben sich aus Reflex an ihr festgeklammert, und das ist zu viel“, erklärt ihre Mutter. Außerdem habe die Erwachsene gegen den Sog des übers Wehr fallenden Wassers zu kämpfen gehabt. Und Alina weiß: „Es ist eben etwas anderes, in einem Fluss zu schwimmen als in einem Freibad. Man muss wissen, wo es gefährlich ist.“ 
Am Abend klingelt die gerettete Frau an der Wohnungstür der Theilers, um sich nochmals zu bedanken für die große Leistung von Alina und Andrin. Deren Mutter strahlt vor Stolz.

Ehrendiplom für Lebensretter

Rund ein Jahr später erhält Alina von der Schweizerischen Carnegie-Stiftung für Lebensretterinnen und Lebensretter ein Ehrendiplom. „Mich beeindruckt das beherzte Eingreifen der Kinder“, sagt Yvonne Feri, Präsidentin der Stiftung. 
„Ich habe mich darüber sehr gefreut und konnte das Erlebnis verarbeiten“, erzählt Alina. Andrin habe es jedoch länger beschäftigt – vielleicht auch, weil seine Schwester mittendrin und er eher außerhalb gewesen sei. Dennoch: Auch heute, wenn Alina in der Kleinen Emme badet, kommt ihr das bewegende Erlebnis immer wieder in den Sinn.