Körper und Psyche

Autor: Anicka Quin

Musik kann heilen

Studien belegen, dass Klänge positiv wirken auf die geistige und körperliche Gesundheit.

Herz mit Kopfhörer

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©istockfoto.com / BrianAJackson

An einen Patienten erinnert sich Sarah Rose Black bis heute: 2019 fragte das Pflegeteam der Palliativstation des Princess Margaret Cancer Centre in Toronto, Kanada, bei ihr an, ob sie sich um einen Patienten kümmern könne, der seit etwa einer Woche bei ihnen lag. Der Mann quälte sich, lehnte jeden Kontakt mit dem Personal ab und verweigerte alle Aktivitäten. „Er sei mürrisch, und sie dachten, dass ich vielleicht einen Zugang zu ihm fände“, sagt Black. Black ist weder Ärztin noch Krankenschwester. Sie ist Musiktherapeutin und arbeitet seit 2013 in diesem Krankenhaus. An einem Tag kümmert sie sich vielleicht um jemanden, der Angst vor einem bevorstehenden Eingriff hat, an einem anderen um einen Patienten, der sich einer Chemotherapie unterzieht und Zuspruch braucht. Oder sie geht zu einem Mann auf der Palliativstation, der noch nicht weiß, dass er sie braucht. An einem kalten Mittwochnachmittag ging Black in das Zimmer des Patienten und stellte sich vor. Sie fragte, ob sie sich setzen dürfe, und ob er Musik hören möchte. Schnell fügte sie hinzu: „Wenn es Ihnen nicht gefällt, können Sie mir sagen, dass ich gehen soll.“ Nach einer Weile nannte ihr der 70-jährige Lungenkrebspatient einige seiner Lieblingskomponisten. Dann drehte er sich weg und sah aus dem Fenster. Doch als sie begann, auf ihrem tragbaren Keyboard Bach zu spielen, geschah etwas mit ihm. Er drehte sich wieder zu ihr, schaute Black an und begann zu weinen. Sie hörte auf zu spielen. „Soll ich weitermachen?“, fragte sie. „Unbedingt“, sagte er unter Tränen.

Wissenschaftlich belegt: Musik kann heilen 

„Musik schien das zu erreichen, was niemand zuvor geschafft hatte“, erinnert sich Black. „Er erzählte mir, dass er so viel zurückgehalten habe, über nichts hätte sprechen können – die Musik war wie eine Umarmung.“ Wer einmal von einem Song zu Tränen gerührt war oder die Freude kennt, wenn das Lieblingslied im richtigen Moment im Radio läuft, weiß, welche Gefühle Musik in uns freisetzen kann. Und es ist wissenschaftlich belegt, dass Musik wie Medizin heilen kann. Daniel Levitin, Psychologe und Neurowissenschaftler an der McGill University in Montreal, Kanada, hat 400 Forschungsarbeiten zur Neurochemie der Musik untersucht. Das Ergebnis: Musikhören und Musizieren wirken sich eindeutig positiv auf die geistige und körperliche Gesundheit aus, stärken unser Immunsystem und senken außerdem den Stresspegel. 2007 fand ein spanisches Forscherteam heraus, dass Musikhören vor einer Operation die Angst so wirksam verringert wie Valium. Das ist wichtig, denn Angst vor einer größeren Operation kann sich auch auf die postoperativen Schmerzen und die Genesung auswirken. Eine weitere spanische Studie, die 2018 auf der Palliativstation des Hospital del Mar in Barcelona durchgeführt wurde, zeigte: Patienten, die an einer Musiktherapie teilnahmen, litten deutlich seltener an Müdigkeit, Angst oder Atembeschwerden. Gleichzeitig steigerte sich ihr Wohlbefinden. Auch große Gesundheitseinrichtungen setzen verstärkt auf Musiktherapie. 2019 hat das US-amerikanische Gesundheitsministerium 20 Millionen US-Dollar zur Unterstützung von Forschungsprojekten im Bereich Musiktherapie und Neurowissenschaften bereitgestellt.

Die individuellen Bedürfnisse der Patienten zählen 

Eine Musiktherapiestunde ist ganz auf die individuellen Bedürfnisse des Patienten ausgerichtet. So ist Black stets mit mehreren Instrumenten unterwegs. Neben dem Keyboard, mit dem sie den Rhythmus und die Akkorde erzeugt, hat sie noch andere Instrumente wie Gitarre, Tamburin und Klangschalen dabei, Aufnahmegeräte und ein Tablet für die Liedtexte. Wenn ein Patient klassische Musik liebt, spielt sie Klassik. Es kann aber auch Folk oder Jazz sein. Zur Sterbebegleitung eines Mannes spielte sie ein Lied von Bob Marley. „Eine Frau, die kein Englisch sprach, brachte mir ein Volkslied auf Farsi bei. Wir hatten einen wunderbaren Austausch“, schwärmt Black. „Sie sang mir eine Zeile vor, ich wiederholte sie, und wir sangen gemeinsam ein wunderschönes Lied.“

Mit ihren Patienten geht Black behutsam um. „Ich erkläre zunächst, dass keine musikalische Erfahrung erforderlich ist“, sagt sie. „Deshalb frage ich: ‚Was möchten Sie fühlen?‘“ Wenn Schmerzlinderung das Ziel ist, passt die Therapeutin Sarah Rose Black das Tempo an die Atmung des Patienten an und spielt allmählich langsamer. Dieser Prozess – Entrainment genannt (Mitnahme oder Mitführung) – kann den Atem verlangsamen und wirkt so beruhigend. Oder der Patient kann mithilfe der Musik das verarbeiten, was er gerade durchmacht. Musik kann helfen, eine Verbindung zu den geliebten Menschen herzustellen, die mit im Zimmer sind. „Manchmal sagt mir ein Patient: ‚Ich habe eine so intensive Erfahrung gemacht, dass ich es nicht in Worte fassen kann.‘ Von Hirnstudien wissen wir, dass Musik Erinnerungen wecken und Aktivitäten in Hirnregionen auslösen kann, die kein anderes Medium erreicht“, erklärt die Musiktherapeutin.

Musiktherapie via Videokonferenz  

Einmal pro Woche nimmt Carol Cameron, 71, in ihrem Haus in Madison im US-Bundesstaat Wisconsin an einem Zoom-Meeting teil. Der Musiktherapeut Jason Armstrong Baker leitet sie und ein Dutzend anderer Teilnehmer beim Trommeln an. Manchmal klatschen sie in einem vorgegebenen Rhythmus in die Hände, manchmal klopfen sie auf ihren Körper. Alle Teilnehmer sind an Parkinson erkrankt. Die Trommeltherapie soll ihre Koordination verbessern. „Mein Tremor ist auf der linken Seite, weshalb es mir schwerfällt, mit der linken Hand zu lernen“, sagt Cameron. „Aber es tut wirklich gut, diesen regelmäßigen Rhythmus hinzukriegen – es gibt mir das Gefühl, ein Problem zu meistern.“ Der Trommelkurs ist eines von mehreren Programmen, die am Johns Hopkins Center for Music and Medicine in Baltimore, USA, angeboten werden. Gegründet hat diese Forschungseinrichtung Dr. Alexander Pantelyat, Geigenspieler und ehemaliges Mitglied des Penn Symphony Orchestra. Heute ist er Neurologe und hat sich auf Bewegungsstörungen wie Parkinson und Huntington spezialisiert. „Das Zentrum bietet unter anderem Musiktherapie an“, erklärt Pantelyat. „Auf diese Weise hat die Musik ihren Weg in die Medizin gefunden.“

 

Die Therapie zur Linderung von Bewegungsstörungen ist relativ neu. Früher wurde sie hauptsächlich in der Krebstherapie eingesetzt. „In der Onkologie und der Krebsforschung war das eine Revolution. Zielgerichtete Therapien, die individuell auf die Patienten zugeschnitten sind, heilen mehr Menschen“, erklärt er. „Beim Musikhören werden viele Regionen des Gehirns gleichzeitig aktiviert. In der Musiktherapie werden Patienten auf einer kulturellen, persönlichen und autobiografischen Ebene angesprochen und behandelt“, fügt er hinzu. Für eine Studie des Center for Music and Medicine wurde ein Chor aus Parkinson-Patienten (die „Parkinsonics“) begleitet, um herauszufinden, wie sich das Singen auf das Sprechen der Sänger auswirkte. Nach zwölf

Wochen nahm deren Sprechlautstärke, die bei fortschreitender Parkinson-Krankheit häufig abnimmt, nachweislich zu. Der Trommelkurs wiederum ging aus einer Studie hervor, die 2015 gezeigt hatte, dass sich die Gehfähigkeit von Parkinson-Patienten nach sechs Wochen Trommeln verbessert hatte.
Das Center for Music and Medicine plant, den Chor nach Abschluss der Studie weiter zu finanzieren. „Die Parkinsonics erklärten uns, sie wollten auch nach der Studie weitersingen“, sagt Pantelyat. Inzwischen bezahlt das Zentrum einen professionellen Chorleiter, einen Musiktherapeuten sowie einen Sozialarbeiter, um die Chormitglieder weiterhin bei ihren Proben zu unterstützen.

Neben therapeutischen Zielen wie der Verbesserung der Koordination oder Atemtechniken zur Angstbewältigung haben die Gruppen auch ein gemeinschaftsbildendes Element, so Kerry Devlin, die leitende Musiktherapeutin des Zentrums. Sie bietet zum Beispiel eine Online-Selbsthilfegruppe für Menschen mit unterschiedlichen neurologischen Erkrankungen an. „Menschen mit wirklich schweren Symptomen, die sich immer weniger verbal verständigen können, finden über die Musik manchmal eine Möglichkeit, wieder zu kommunizieren“, sagt Devlin. „Ich hatte das große Glück, mit Menschen Musik zu machen, denen plötzlich Worte wieder einfielen. Das ist immer ein wunderschöner, überraschender Augenblick.“ Es sei sehr bewegend, fügt sie hinzu, wenn jemand durch das Singen für einen Moment wieder zu sich selbst finde.

Kerry Devlin setzt sich dafür ein, Patienten das Gefühl zu vermitteln, dass sie mehr als nur ein Rädchen in einem medizinischen System sind: „Natürlich sind sie im Krankenhaus, um behandelt zu werden, aber sie sind auch Menschen. Bei der ganzheitlichen Betreuung ist es deshalb wichtig, den Patienten die Möglichkeit anzubieten, die Auswirkungen einer Diagnose auf ihr Leben zu verarbeiten.“

Therapie für Kinder 

Kranke Kinder sprechen auch sehr gut auf Musik an. Ruth Hunston ist Musiktherapeutin am Great Ormond Street Hospital in London, Großbritannien. Im ältesten britischen Kinderkrankenhaus werden jährlich mehr als 69 000 Patienten behandelt.  „Wenn Kinder ins Krankenhaus kommen, wird ihre Welt viel kleiner“, sagt Hunston. Ihr 2019 eingeführtes Programm trägt dazu bei, den jungen Patienten ein Gefühl der Kontrolle zurückzugeben. „Es wird so viel mit ihnen gemacht und über sie bestimmt, und hier gestalten sie selbst.“ Ein längerer Aufenthalt in der Pädiatrie könne sich auf die Entwicklung eines Kindes auswirken, sagt Hunston. Daher ist ein Großteil ihres Programms darauf ausgerichtet, die kleinen Patienten zu fördern. „Ich hatte viele Kleinkinder, die sich am Schlagzeug zum ersten Mal aufrecht hingesetzt haben, weil sie unbedingt darauf spielen wollten, berichtet sie. „Oder sie fangen an, Laute von sich zu geben, weil ich ihnen etwas vorsinge, und sie wollen, dass ich weitersinge.“

Auch die Eltern werden in den therapeutischen Prozess einbezogen. „Es ist schwer, sein Kind dort zu lassen“, erklärt sie. „Es ist eine wirkliche Freude mitzuerleben, wenn ich einen Raum betrete, zu musizieren anfange, und die Kinder ihre Eltern dann auffordern mitzumachen. Das ist wunderbar, und manchmal kann ich mich zurückziehen und ihnen einfach beim Spielen zusehen, wie sie herzhaft lachen und Spaß haben.“

Fester Bestandteil der Therapie 

Im Dr. Bob Kemp Hospiz in Hamilton, Kanada, ist die Musiktherapie zu einem festen Bestandteil der Patientenbetreuung in stationären Einrichtungen für Sterbebegleitung geworden. „In der Palliativversorgung steht nicht der Tod im Mittelpunkt“, erklärt Doug Mattina, Leiter der pädiatrischen Abteilung des Hospizes. „Es geht darum, den Patienten die größte Freude zu bereiten. Das bedeutet, wir bieten nicht nur die Rundumbetreuung für den Einzelnen, sondern für alle, die betroffen sind.“

Mattina hat das musiktherapeutische Programm selbst erlebt, als sein Vater die letzten Tage im Hospiz verbrachte. „Ich weiß noch, wie der Musiktherapeut zu ihm sagte: ‚Bill, in welcher Stimmung sind Sie heute?‘ Und mein Vater antwortete: ‚Heute ist die Zeit zum Tanzen.‘“ Diese Erfahrung hat Mattina so bewegt, dass er seinen Job im Außendienst aufgab, um Vollzeit für das Hospiz zu arbeiten. „Obwohl es meinem Vater richtig schlecht ging, und wir wussten, dass uns nur noch Tage oder Stunden mit ihm blieben, tanzten meine Mutter, meine Geschwister und ich ums Bett herum. Sein Lieblingslied war Rasputin und wir mussten richtig springen, während er mitklatschte. Manchmal schlief er darüber ein.“

Sara Klinck leitet das Musiktherapieprogramm im Hospiz, wo sie mit Sterbenden zusammenarbeitet. Manchmal geschieht das in Form eines improvisierten, abwechselnden Singens, um die Patienten dabei zu unterstützen, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Einem anderen hilft sie, ein Lied als Vermächtnis für seine Familie zu komponieren. „Wir singen auch Lieder, die für die Bewohner und ihre Familien eine persönliche Bedeutung haben, um sich gegenseitig ihre Gefühle zu zeigen“, sagt sie. „Wenn Besucher und Familienmitglieder mitsingen, hört es sich wie ein ganzer Chor an. Manchen Menschen fällt es leichter, über etwas zu singen als darüber zu sprechen.“

Es ist auch schon vorgekommen, dass Klinck einem Bewohner vor seinem Tod einen lebenslangen Wunsch erfüllt hat – wie einem Patienten mit ALS im Endstadium. „Er konnte seine Hände kaum noch bewegen, wollte aber schon immer Gitarre spielen.“ Sie brachte ihm das Instrument ans Bett und legte es ihm auf den Schoß. „Er konnte seine Hände auf die Saiten legen und an ihnen zupfen. Ich bewegte die Gitarre für ihn.“ Seine Familie glaubt, dass dieses musikalische Erlebnis sehr wichtig für ihn war.
Diese Dinge aufzuspüren ist die Aufgabe eines erfahrenen Therapeuten. Sarah Rose Black erklärt, dass Menschen ihr ganzes Leben lang eine Verbindung zur Musik haben – sie helfe ihnen nur, den Zugang dazu wiederzufinden, wenn sie die Musik am meisten brauchen. „Wir haben einen Herzschlag, also haben wir eine Trommel in uns. Wir sind von Geburt an musikalisch“, sagt sie. Sie lächelt, als sie an einen Patienten zurückdenkt, einen Mann Ende 30 mit Hirntumor im Endstadium. „Er sagte mir: ‚Sarah Rose, ich habe viele tolle Freunde. Sie kommen mich besuchen und sind auch hilfsbereit, aber sie begreifen nicht wirklich, was hier vor sich geht. Musik dagegen ist wie ein Freund, der versteht.‘“