Das kleine Weihnachtsdrama, das keines war
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Es begann damit, dass es an der Haustür klingelte. Gian-Pietro, ein Freund von Papa, übergab ihm einen Vogelkäfig samt Kanarienvogel und etwas Futter mit der Bitte, diesem Asyl für eine Woche zu gewähren, da Gian-Petro mit seiner Frau über Weihnachten verreise. Als Papa mit Vogel, Käfig und Futter in die Küche kam, rief Mama entsetzt: „Und die Katze?!“ „Mach dir nur keine unnötigen Sorgen“, brummelte Papa, „ich konnte nicht Nein sagen, du weißt doch, Gian-Pietro ist kinderlos und hat keine Verwandten in der Nähe. Wir stellen den Vogelkäfig einfach auf den Biedermeierschrank.“ Und so geschah es denn auch.
Der Kanarienvogel allerdings zwitscherte nur selten seine Melodien. Es behagte ihm wohl nicht, dass Minou, die Katze, so oft als möglich im Wohnzimmer herumschlich und zu ihm hinaufschielte. „Die Angst vor Katzen ist nun halt mal sein Karma“, sagte Papa achselzuckend zu seinen drei Töchtern Ramona, Mirjam und Sophie, „aber schließt bitte immer die Tür“.
Zwei Tage später, am 24. Dezember um 18 Uhr saß Patenonkel Röbi in etwas krummer Haltung am Weihnachtstisch bei einem Glas warmem Wein mit Zimt. „Zimt wärmt“, bemerkte Mama „und ist gut gegen Ischias.“ „Und wenn nicht, halt fürs Gemüt“, ergänzte Papa. Röbi nahm Minou auf den Schoß, denn auch Katzen sollen wirksam sein gegen Hexenschuss. Es war alles wunderschön vorbereitet: Festlich geschmückt zierte der Weihnachtsbaum den Raum. Köstlich duftete der aufgeschnittene Zopf. Verlockend der mit Croutons und Eiern vermischte Rapunzelsalat. Kunstvoll gefaltet lagen die Silberpapiersternchen auf den weißen Stoffservietten. Schimmernd funkelten die Kristallgläser im Kerzenschein. Alles so richtig weihnachtlich halt.
Die Hausglocke signalisierte die Ankunft der Großeltern. Die drei Mädchen, neun, zwölf und 14 Jahre alt, stürmten zur Tür. Die Großmutter war beladen mit einer Blechdose voller Weihnachtskonfekt und drei Weihnachtspäcklein. Zwischen ihren Beinen hindurch aber jagte wie ein Blitz Fino, der Rauhaardackel, samt Leine in den Hausflur. Großvater rief in Befehlston: „Fino, Fiiino!“ Dies wurde natürlich nicht beachtet, denn schließlich war man ja ein Jagdhund!
Fino bellte, Minou sprang vom Schoß des Patenonkels, rannte unter dem Tisch hindurch, kletterte auf den Weihnachtsbaum. Von dort hob sie ab mit einem Sprung – auf den Biedermeierschrank! Der Vogelkäfig rutschte ab und donnerte auf den Weihnachtstisch. Durch das nun offene Türchen rettete sich der Vogel auf den Lampenschirm und verzierte diesen mit Vogeldreck, was man ihm in dieser Situation ja gewiss nicht verübeln durfte. Fünf von acht Kristallgläsern waren zerbrochen, und ihre Scherben mit Vogelsand und Kerzenwachs vermischt auf Zopf, Salat und Delikatessen gelandet!
Der bedauernswerte Kanarienvogel zitterte. Minou lauerte mit gesträubtem Fell auf dem Schrank. Fino jaulte unter dem Tisch mit eingezogenem Schwanz.
Die Familie war einen Moment lang perplex, bis die Jüngste rief: „Frohe Weihnacht!“ Darauf erfolgte erlösendes Gelächter mit Zwischenrufen: „Halleluja!“ „Nein, so was!“„Gottver...“
„Nein, Papa, sag’s nicht, es ist Weihnacht!“
„Schöne Bescherung, buchstäblich schöne Bescherung“, kommentierte Patenonkel Röbi lakonisch. Mama entschuldigte sich, doch er winkte grinsend ab: „Das warst ja nicht du, das war, sagen wir mal, ein Naturphänomen!“ Der liebe, gute Röbi!
Nun wurde der traumatisierte Vogel sanft geborgen und in seinem Käfig, mit Futter und Wasser versorgt, wieder auf dem Biedermeierschrank platziert. Der armen Katze wurde ein Reha-Aufenthalt auf des Patenonkels Schoß verschrieben und präventiv schob Papa den Weihnachtsbaum etwas aus der Gefahrenzone.
Der Weihnachtstisch wird umdekoriert
Die Großeltern standen immer noch in ihren Mänteln im Türrahmen. Großmutter schlug vor, mit den Kindern und Fino einen kleinen Spaziergang zu machen. Flugs schlüpften die Mädchen in ihre Wintersachen und zogen fröhlich mit den Großeltern davon. Der Hausherr trug das Besteck, die heil gebliebenen Gläser und das restliche unbeschädigte Porzellan sowie die Kerzenhalter in die Küche. Dann packte er das Tischtuch an seinen vier Ecken, schulterte den Beutel und deponierte den ganzen Plunder vorläufig draußen, indes die Hausherrin mit dem Staubsauger alles vom Tisch und vom Weihnachtsbaum Gefallene entfernte. Bald danach wurde geblümte Bettwäsche zu einem Tischtuch umfunktioniert und mit farblich passenden Papierservietten ergänzt. Die geretteten Teller und Kristallgläser reichten gerade noch für die Gedecke der Gäste. Auf Mamas Platz diente jetzt die kleine blaue Tortenplatte als Teller und Papa brachte grinsend sein Militär-Essgeschirr samt stilechtem Blechbesteck.
Die Kinder durften bei ihrer Rückkehr ihr Gedeck selbst aussuchen, was sie mit Begeisterung taten. Ramona fand gläsernes Essgeschirr. Mirjam holte für sich aus der Zeltkiste oranges Bakelit-Geschirr und Sophie saß strahlend vor dem Teller mit dem Goldrand, der sonst für Geburtstage reserviert war.
Die neue Vorspeise bestand aus Büchsenspargel, Tomatenschnitzen und Tubenmayonnaise. Mit Heiterkeit, aber auch innerer Dankbarkeit wurde gegessen. Alle waren froh, dass zuvor nicht der feine Hauptgang auf dem Tisch gewesen war. Nach dem Essen konnte die eigentliche Weihnachtsfeier beginnen – oder auch nicht! Papa zündete die obersten Kerzen am Baum an, Ramona und Mirjam die unteren, und Sophie schaute nach, ob die Krippenfiguren richtig platziert waren.
Das Weihnachtskind fehlt!
Dann ertönte Ein Schrei: „Das Weihnachtskind fehlt!“ Tatsächlich, es fehlte! Nach kurzer Überlegung befand Mama: „Wahrscheinlich ist’s im Staubsauger.“ Und mit etwas schwacher Stimme schlug sie vor: „Wir holen es morgen raus und legen jetzt ein Puppenstubenkind in die Krippe.“ An den entsetzten Kindergesichtern sah sie schon, dass es niemals eine Weihnacht ohne Weihnachtskind geben würde. „Das wäre ja dann Puppennacht“, rief Ramona. Gleich darauf kam Mirjam mit dem Staubsaugerbeutel in die Stube. Papa verschwand mit den Kindern und bewaffnet mit seinem Taschenmesser nach draußen. Dort öffneten sie das gefüllte Tischtuch, schlitzten den Staubsack auf und schütteten dessen Inhalt über all das, was dort lag.
Wie Trompeten und Schalmeien erklang der Jubel, als sie das nochmals neugeborene Kind fanden. Es hatte zum Glück seinen ungewollten Ausflug gut überstanden, es war nur etwas staubbedeckt. Der Großvater räusperte sich und sprach: „Man kommt aus Staub und wird zu Staub, so steht’s in der Bibel.“ Sein Blick war weit weg gerichtet, als sähe er in die Ewigkeit. Es wurde still. Niemand sagte ein Wort.
Das Weihnachtswunder
In diesem Moment begann der Kanarienvogel zu zwitschern, pfeifen, singen, ja tirilieren: Sein Weihnachtslied fühlte sich an wie ein Wunder, ein fantastisches Weihnachtswunder! Die Stimmung war nun so fein und schön. Alle fühlten die Sternstunde! Der Weihnachtsabend verging dann viel zu schnell. Beim Abschied drückte Patenonkel Röbi der Mama eine Hunderternote in die Hand und murmelte etwas von neuem Porzellan. Großmutter stupste mit ihrem Ellenbogen sanft in Großaters Rippen, begleitet von einem vielsagenden Blick. Also klaubte der Familienpatriarch sein Portemonnaie aus der Hosentasche hervor. Es war ihm bewusst, dass er den Patenonkel übertrumpfen musste, denn er hatte absolut keine Lust auf ein weiteres dramatisches Ereignis. Und so nahm dieses kleine weihnächtliche Drama ein friedliches Ende. Aber: War es eigentlich ein Drama?
Nein! Es war Glück, pures, gemeinsam erlebtes Glück!





