Ahmad Kames stoppt die Messer-Attacke im Bus
In einem voll besetzten Bus sticht ein Mann auf einen anderen ein. Nur Ahmad Kames greift mutig ein.

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Ahmad Al Sheikh Hussein Kames hat in seinem noch jungen Leben schon viel Schlimmes gesehen. Mit 23 Jahren musste er seine Heimat Syrien verlassen. Damals tobte der Bürgerkrieg und regimetreue Truppen versuchten, den Medizinstudenten zum Militärdienst zu zwingen. Sechs Jahre später absolviert Kames eine Ausbildung zum Anästhesietechnischen Assistenten am Bonner Universitätsklinikum.
Am 27. Juli 2020 ist Kames mit dem Bus auf dem Weg von seiner Arbeitsstätte zum Bonner Hauptbahnhof. Um diese Tageszeit, gegen 15.30 Uhr, ist der Bus voll, viele Fahrgäste stehen. Der junge Mann hat einen Platz in einer der letzten Sitzreihen gefunden. Etwa 15 bis 20 Minuten dauert die Fahrt. Der Auszubildende nutzt sie, um ein wenig zu entspannen: Über seine Kopfhörer lauscht er Musik, spielt dabei auf seinem Handy. Die Welt um sich herum vergisst er in diesen Minuten.
Ein Mann sticht im Bus auf einen anderen ein
An der vorletzten Haltestelle ändert sich dies schlagartig. Kames zieht gerade die kleinen Hörer aus den Ohren, als er Schreie vernimmt. Er blickt auf – und traut seinen Augen nicht. Etwa in der Mitte des Busses steht eine schwarz gekleidete Gestalt, umringt von anderen Fahrgästen, die wie gelähmt wirken. In der rechten erhobenen Faust hält die Gestalt ein Küchenmesser! Im nächsten Moment saust die Faust herunter. Auf wen der Mann da einsticht, kann Kames nicht erkennen. Aber wer immer es ist, befindet sich in Lebensgefahr und braucht Hilfe, sofort. Der junge Syrer springt auf, bahnt sich einen Weg zum Angreifer. Noch immer reagiert keiner der anderen Fahrgäste. Kames umschlingt den Mann mit dem Messer von hinten, sodass dieser die Arme nicht mehr bewegen kann. Der Messerstecher schreit wütend auf, windet sich, versucht sich zu befreien. Aber der 29-Jährige hält ihn eisern fest.
Kames spürt, wie seine Kräfte nachlassen. Er versucht, den Täter abzulenken
Es gelingt ihm sogar, den Oberkörper des Angreifers gegen eine Haltestange zu drücken und ihn dort zu fixieren. Dass er dabei selbst in Gefahr ist, weil der Mann immer noch seine Waffe umklammert, lässt Kames nicht zögern. „Lass mich los! Lass mich ihn töten!“, brüllt der Messerstecher. Niemand kommt Kames zu Hilfe. Im Gegenteil, die anderen Fahrgäste sind vor Täter und Helfer zurückgewichen. Aus den Augenwinkeln sieht Kames im Gang eine Person regungslos auf dem Bauch liegen. Er kann nicht erkennen, wie schwer verletzt die Person ist.
Wie lange der Auszubildende mit dem Messerstecher ringt, kann er später nicht sagen. Aber irgendwann steht der Bus, die Fahrgäste räumen das Fahrzeug fluchtartig. Durch den Gang fließt Blut Richtung Tür. Da setzt ein junger Mann zögernd einen Fuß auf das Trittbrett. „Jemand muss die Polizei rufen und der verletzten Person helfen“, ruft Kames ihm zu. Der 1,68 Meter große Syrer spürt, wie seine Kräfte nachlassen. Lange wird er den Täter nicht mehr halten können. Er versucht, ihn abzulenken: „Wie heißt deine Frau?“ und „Hast du Kinder?“, fragt er ihn. Eine Antwort bekommt er nicht.
Das Opfer, ein junger Mann, droht im Bus zu verbluten
Plötzlich stehen zwei Polizeibeamte neben ihm. Erleichtert lässt der 29-Jährige den Täter los, wendet sich der reglos am Boden liegenden Person zu, kniet neben ihr nieder. Ein junger Mann. Er blutet aus zahlreichen Wunden an Kopf und Handgelenken. Der Täter muss also mehr als einmal zugestochen haben. Das Blut, das aus den Verletzungen an den Handgelenken des Opfers pulsiert, ist hellrot. Als ehemaliger Medizinstudent weiß Kames, was dies bedeutet: Eine Arterie ist verletzt – der junge Mann droht zu verbluten! „Bleib wach!“, spricht er ihn an. „Atme weiter, einfach weiteratmen!“ Jemand stellt einen Erste-Hilfe-Koffer neben Kames. Fieberhaft reißt er Kompressen aus der Verpackung, drückt sie so fest es geht auf die Handgelenke des Verletzten und fixiert sie. Mehr kann er nicht tun. Dann trifft endlich der Notarzt ein.
Erst jetzt bemerkt Kames, dass jeder Muskel in seinem Körper schmerzt. Mühsam richtet er sich auf. Der metallische Blutgeruch im Bus verursacht ihm Übelkeit, er wankt hinaus auf die Straße. Ein Polizist reicht ihm seinen Rucksack. Mit Wasser aus seiner Trinkflasche reinigt der Helfer notdürftig seine blutverschmierten Hände. Die Polizisten bitten ihn noch, mit aufs Revier zu kommen, um seine Aussage aufzunehmen.
Weshalb der Angreifer seinem Opfer nach dem Leben trachtete, hat Kames nie erfahren. Es interessiert ihn auch nicht. Wichtig für ihn ist, dass die Ärzte dem jungen Mann mit einer Notoperation das Leben retten konnten. Aber es war knapp, sehr knapp. Für sein mutiges Eingreifen ehrte das Universitätsklinikum Ahmad Kames als Mitarbeiter des Jahres 2021, das ZDF verlieh ihm einen Preis für Zivilcourage. Über die Auszeichnungen freut er sich. In den Tagen nach dem Angriff bewegte ihn jedoch eine andere Sache. „Die zwei, drei Nächte danach konnte ich kaum schlafen, weil ich nachdenken musste“, erzählt er. „Warum hatte der Mann überhaupt die Zeit, mehrfach zuzustechen. Warum ist ihm nicht vorher jemand in den Arm gefallen?“