Das Besuchskaninchen

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MR. X, ein kastrierter Kater mit getigertem Fell, lebte in unserem Landhaus wie Gott in Frankreich. Er hatte alles, was er brauchte, bis hin zum komfortablen Korb am Kamin und einer eigenen Katzentür zur Gartenveranda. Er wurde maßlos verwöhnt, trotzdem kam er hin und wieder mit einer Feldmaus an, um zu beweisen, dass er sich seine Frühstücksmilch verdient hatte.
Eines Januarmorgens stürzte unser Sohn Martin herein und schrie, Mr. X habe ein junges Wildkaninchen gefangen und sei drauf und dran, ihm den Garaus zu machen. Das Opfer, ein kleines, graubraunes Fellbündel, hockte starr vor Angst da. Am linken Ohr blutete es aus zwei Wunden. „Du musst es retten, Papa!“ Mit Tränen in den Augen stampfte Martin verzweifelt mit dem Fuß auf, was den Kater derart einschüchterte, dass ich das kleine Kaninchen greifen konnte. Doch als ich es in den Armen hielt, sank es plötzlich zur Seite, wie tot vor Schreck. „Unser kleines Karnickel“ – abgekürzt UKK –, wie wir es zu nennen pflegten, blieb nur am Leben, weil Martin es partout nicht sterben lassen wollte. Es atmete kaum noch, aber er hielt es über eine Stunde fest an sich gedrückt. Endlich erwachte es, blieb aber weiter mit geschlossenen Augen hocken und verweigerte jegliche Nahrung. Am Abend flößten Martin und ich ihm ein bisschen Milch mit Traubenzucker und Weinbrand ein.
Martin hielt die ganze Nacht bei dem unruhig schnaufenden Tier Wache, nachdem er es in eine Puppendecke gewickelt in den Katzenkorb gebettet hatte. Der Kater war empört über diesen Affront, doch Martin ließ ihn vernünftigerweise trotzdem im Zimmer. Mr. X sollte lernen, dass er UKK nie wieder etwas zuleide tun durfte.
Dem Kaninchen geht es wieder gut
Beim Frühstück berichtete Martin gähnend, aber glückstrahlend: „UKK ist über den Berg. Nach der letzten Cognakmilch hat es sich sogar schon seinen Schnurrbart geputzt.“ Später brachte ich dem Tier eine Handvoll Löwenzahnblätter und Klee aus dem Garten. Als es das Grünzeug verputzt hatte, hopste es aus dem Korb, machte einen Luftsprung, drehte eine Art Pirouette und kehrte in den Korb zurück.
Ich hatte auf unserem Grundstück einige große, mit Maschendraht eingefriedete Gehege angelegt, in denen ich unter annähernd natürlichen Bedingungen das soziale Verhalten von Wildkaninchen studierte. Martin ließ es nicht zu, dass ich UKK dort hineinsetzte. Er meinte zu Recht, die großen Kaninchen würden UKK drangsalieren, aber der wahre Grund war, dass er es als Haustier haben wollte. So wurde das Karnickel als vollwertiges Mitglied in unsere Familie aufgenommen. Es erwies sich zu meinem Erstaunen von Anfang an als ungemein zutraulich und gescheit. Wildkaninchen lassen sich normalerweise nur schwer zähmen und abrichten. Wir waren zweifellos voreingenommen, doch durch seine Gelehrigkeit und sein anschmiegsames Wesen eroberte UKK unsere Herzen im Sturm.
UKK war sehr verspielt. Nach dem Tee, den es schwach und mit Zucker nahm, war es stets zu allerlei Späßen aufgelegt. Besonderen Spaß machte es ihm, wenn man es zu fangen suchte; oft wurde ein regelrechtes Versteckspiel daraus. Gewöhnlich verkroch es sich unter irgendein Möbelstück, aber wenn man es zu lange nicht fand, trommelte es mit den Hinterläufen, um auf sich aufmerksam zu machen. Unserem Karnickel stand das ganze Haus offen. Oft lief es die Treppen hinauf in den ersten Stock und äugte hinter Mauerecken hervor, um zu sehen, ob man auch nachkam. Das Tier war stubenrein; es hatte bald die Katzentür benutzen gelernt – eine weitere Demütigung für Mr. X.
Die Kaninchensprache
Um sich verständlich zu machen, bediente sich UKK einer Reihe von Zeichen, die wir mit der Zeit zu deuten wussten: Ein dumpfes Grunzen war begeisterte Zustimmung, einmaliges Klopfen mit dem Hinterlauf freundliche Ablehnung, mehrmaliges Klopfen ein entschiedenes Nein, manchmal auch Ausdruck von Ärger oder Angst. Ein langgezogenes Zischen war UKKs Imitation des so oft von mir gebrauchten please (bitte). Dieser beschwörende Laut kam stets zuerst, wenn es mich für ein Spiel gewinnen wollte.
Zwischen UKK und Mr. X war das Verhältnis weiterhin gespannt. Da wir dem Kater eingeschärft hatten, dem Karnickel ja nichts zu tun, stand er, sowie es erschien, aus seinem Korb auf und entfernte sich mit ärgerlichem Schwanzschlagen, das durch unseres Karnickels Versuche, mit dem stolzen Anhängsel zu spielen, nur noch wütender wurde. Dann fanden wir die beiden eines Abends Seite an Seite auf dem Kaminvorleger. Mr. X leckte dem Karnickel schnurrend das Fell. Mir fiel ein, dass ich UKK am Nachmittag unter der Katzenminze in der Erde hatte wühlen sehen. Es roch noch immer nach der Pflanze, und diesem Duft kann kaum eine Katze widerstehen. Von da an waren die beiden die besten Freunde, obwohl das Karnickel weiterhin den Korb für sich in Anspruch nahm.
Rettung vor dem Wiesel
Für sein Leben gern trieb es sich im Garten herum. Es kostete mich viele Stunden, bis ich ihm abgewöhnt hatte, an Blumen und Gemüsepflanzen zu knabbern und in den Beeten zu scharren. Ich bediente mich dazu seiner Sprache – zweimaliges Fußstampfen – und rief dabei laut: „Nein!“ Das wirkte schließlich, aber dafür musste ich auch grunzen und es ausgiebig loben, wenn es brav war.
Wenn niemand für UKK Zeit hatte, setzte ich es in ein transportables Maschendrahtgehege, wo es nach Herzenslust grasen konnte. Das ging ein paar Tage gut, aber dann musste ich es eines Nachmittags mit Gewalt hinein befördern. Es wollte absolut nicht und trommelte zum Zeichen des Protestes wie wild mit den Hinterläufen.
Die plötzliche Abneigung gegen das Gehege entpuppte sich als Todesangst. An dem Tag gelang einem Wiesel, was es ohne unser Wissen schon einmal versucht haben musste: Es drang in das Gehege ein. UKK kauerte vor Schreck wie gelähmt in einer Ecke und stieß einen herzzerreißenden Angstschrei aus. Zum Glück war ich in der Nähe und konnte es retten, bevor das Wiesel zupackte.
Als UKK sich nach ein paar Stunden erholt hatte und seine glasigen Augen wieder klar wurden, versprach ich ihm, dass ich es nie mehr einsperren würde. „Wenn je wieder ein Wiesel hinter dir her ist“, belehrte ich es, „dann renn, so schnell du kannst durch die Katzentür in mein Arbeitszimmer. Ich sorge dafür, dass die Tür dort immer offen ist.“ Das Tier verstand mich nur zu gut und wich fortan nicht mehr von meiner Seite. An Regentagen, wenn es ihm draußen nicht gefiel, leistete es mir Gesellschaft, während ich am Schreibtisch arbeitete.
Manchmal sprang es mir, trotz lauter Aufforderungen, schleunigst zu verschwinden, unbekümmert auf den Schoß und von dort im Handumdrehen auf den Schreibtisch, um sich schließlich auf dem Buch niederzulassen, in dem ich gerade las, oder auf dem Brief, an dem ich schrieb.
Was blieb mir dann anderes übrig, als das Karnickel aufzunehmen, sein weiches, schnurrbärtiges Gesicht zu küssen, die kecken schönen Augen zu bewundern und ihm zu sagen, was für ein lästiger Patron es sei?
Gassi gehen mit Kaninchen
Eine Drüse am Kinn der Kaninchen sondert einen Duftstoff ab, mit dem sie ihr Revier und ihren Besitz markieren. Wenn ich UKK liebkoste, benetzte es mich mit ein paar Tröpfchen und machte deutlich, dass es mich als sein persönliches Eigentum betrachtete.
Es machte UKK offensichtlich großen Spaß, mir beim Reden zuzuhören. Das Tier saß dann ganz still da und ließ ein Ohr hängen, so, als halte es meine Stimme auch bei halber Lautstärke für durchdringend genug. Sobald ich stillschwieg, richtete es augenblicklich beide Ohren auf und hoppelte umher, als wollte es sagen: „Na, was ist? So erzähl doch endlich weiter!“ Unser Karnickel war unerhört anhänglich und entfernte sich auch auf gemeinsamen Spaziergängen nie weit von mir. Sowie sich eine Gefahr zeigte, etwa eine Katze, ein Hund oder ein Habicht, kam es gleich angewetzt und sprang mir in die Arme.
Als der Herbst kam, war UKK zu einem schönen, großen Tier herangewachsen. Das Kaninchen hatte keine Angst mehr vor den Hunden der Leute, die uns besuchen kamen, sondern blieb, wo es war, trommelte mit den Hinterläufen sein „Nein“ und hieb mit seinen scharfbekrallten Vorderpfoten um sich.
Eines Novemberabends kehrte es so lange nicht zurück, dass ich schließlich auf die Veranda hinaustrat und nach ihm rief. Es kam sofort angehoppelt und legte sich in den Katzenkorb, wo es sich den Pelz reinigte, der voll Erde war. „UKK gräbt sich einen Bau“, konstatierte mein kenntnisreicher Sohn. „Ich habe es heute Nachmittag oben im Wald beobachtet. Guck doch mal, was es für einen dicken Bauch hat!“
Vier kleine Kaninchenjunge
Irgendwie hatte das Karnickel einen Bräutigam gefunden. Wir bekamen ihn allerdings nie zu Gesicht. Kurz vor Weihnachten krabbelten vier Junge aus dem Bau. In den folgenden Monaten produzierten UKK und der mysteriöse Rammler noch vier weitere Würfe, und mit jedem lockerte sich die Bindung des Tieres an uns. Schließlich kam es überhaupt nicht mehr, ließ sich aber meine Besuche weiterhin gefallen.
Gemeinsam mit seinem Partner bevölkerte UKK bald die verödeten Wälder und Felder. Die Weibchen aus dem ersten Wurf bekamen bereits im Sommer ihrerseits Junge; sodass UKK nun Großmama war, Stammmutter einer blühenden Dynastie – eine unumschränkte Herrscherin wie schon bei uns zu Hause.