Die Kalender-Girls
Nach dem Tod von Mollys Ehemann organisieren ihre Freundinnen Unterstützung für ein ganzes Jahr.

©
Diesen Artikel gibt es auch als Audio-Datei
Es war der 24. März 2018, und für Molly Baker sollte sich die Welt für immer verändern. An jenem bewölkten Samstagmorgen war sie nach dem Joggen gerade in ihr Haus in Sammamish, US-Bundesstaat Washington, zurückgekehrt. Ihr Mann Marlin, 59, ein begeisterter Wintersportler, war schon früh aufgebrochen, um auf den Pisten am Crystal Mountain Ski zu fahren. Ihr 14-jähriger Sohn Samuel war bei einem Freund.
Molly, damals 52, war gerade dabei, ihrer Buchhaltertätigkeit nachzugehen, als ihr Handy klingelte. Sie kannte die Nummer nicht, also ignorierte sie den Anruf zunächst. Doch dann hörte sie die Sprachnachricht der Crystal Mountain Ski Patrol ab: Marlin hatte einen Skiunfall gehabt. Mit Herzklopfen rief sie sofort zurück. Ihr Mann war tot! In diesem Moment, so erinnert sich Molly, fiel sie auf die Knie und schrie einfach. „Mein Leben wurde komplett auf den Kopf gestellt. Alles, was ich kannte und worauf ich mich verlassen konnte, wurde einfach weggeblasen“, sagt sie. Sie waren seit fast 20 Jahren verheiratet. „Was soll ich tun?“, rief sie klagend. „Was soll ich nur tun?“
Als Carla Vail, eine von Mollys engsten Freundinnen, die schreckliche Nachricht erfuhr, bot sie sofort ihre Hilfe an. Die Frauen hatten sich zehn Jahre zuvor an der Vorschule ihrer Söhne kennengelernt. „Wir verstanden uns auf Anhieb“, erzählt Carla. Die Mütter hatten viele Gemeinsamkeiten. Ihre Söhne waren bereits gute Freunde, und auch die Ehemänner freundeten sich an. In der ersten Woche nach Marlins Unfall war Carla jeden Tag bei Molly und unterstützte diese bei der Planung der Beerdigung. Außerdem erstellte sie einen Online-Kalender, in den Helfer eintragen konnten, an welchen Tagen sie Essen bringen wollten. Es gab große Hilfsbereitschaft von Freunden, Nachbarn und der Kirchengemeinde. Der Kalender füllte sich schnell, entsinnt sich Carla. „Ich bekam dann E-Mails, in denen es hieß: ,Alle Essenstage sind schon belegt, aber ich möchte etwas tun. Wie kann ich helfen?‘ Also notierte ich mir die Namen.“
Die Namensliste brachte Carla zum Nachdenken über ihre eigenen Erfahrungen. Sie hatte jahrelang ihre Eltern bis zu deren Tod gepflegt, und sie hatte auch den Verlust ihrer Schwiegereltern und einer Tante miterlebt. „Eine Sache, die ich gelernt habe, ist, dass die intensive Beileidsphase etwa zwei Wochen anhält. In dieser Zeit ist der Tisch voller Blumen und der Kühlschrank voller Aufläufe“, schildert sie.
Carla erfindet die Kalendergirls
Carla wusste, dass Molly bereits eine wichtige tägliche Unterstützung durch ihre Schwester Kathy hatte, die angereist war. Aber was wäre, wenn Carla diese anfängliche Welle der Liebe von Mitmenschen in etwas Dauerhafteres umwandeln könnte? Etwas, das Mollys Tage in dem vor ihr liegenden schwierigen Jahr aufhellen würde? Sie sah sich das Dutzend Namen an, die sie bereits hatte.
„Ich dachte mir, was wäre, wenn ich ein paar mehr Leute finden würde und einen Kalender einrichten würde, damit an jedem Tag im Monat jemand nach Molly sehen würde?“, legt Carla dar. „Auf diese Weise wäre niemand überfordert, weil man es nur ein paar Mal im Jahr machen müsste.“
Sie unterbreitete Molly die Idee, um sicherzugehen, dass sie damit einverstanden war, und um klarzustellen, dass keine der beteiligten Frauen wollte, dass Molly sich unter Druck gesetzt fühlte, jeden Tag Kontakte zu knüpfen. „Ich sagte zu ihr: ,Niemand wird etwas von dir verlangen. Und wenn jemand an seinem Tag mit Blumen auftaucht, musst du nicht unbedingt an die Tür gehen, wenn dir nicht danach ist‘“, erklärt Carla.
Mit Mollys Zustimmung verfasste Carla eine E-Mail an 31 Frauen – und die „Kalendergirls“ waren geboren. Carlas Botschaft an die Kalendergirls war einfach: Eine kleine Geste für Molly – „eine Karte, ein Anruf oder ein Kaffee“, wie sie sagt – und zwar jeden Monat zum gleichen Datum, ein ganzes Jahr lang. Wenn also jemand den Ersten des Monats wählte, konnte er jedes Mal, wenn dieser Tag kam, beispielsweise mit Mollys Hund Gassi gehen, ihr anbieten, eine Besorgung für sie zu machen, oder ihr auch einfach eine Textnachricht schicken. Carla achtete darauf, welche Daten besonders schwierig sein könnten - Samuels Geburtstag im April, der Hochzeitstag im Juli, Marlins Geburtstag im August. Sie selbst übernahm den 24. – den Tag, an dem Marlin starb. Die Initiatorin legte auch Notizen über Mollys Lieblingssüßigkeit und Lieblingsfarbe an, für den Fall, dass jemand ein kleines Geschenk schicken wollte.
Es geht nicht um Geld, sondern um Unterstützung
„Aber die grundsätzlich Absprache lautete: Hier geht es nicht um Geld, sondern um emotionale Unterstützung“, betont Carla. Im Laufe der Wochen und Monate bekam Molly jeden Tag Besuch von einem ihrer Kalendergirls. Nichole, die drei Häuser weiter wohnte, brachte ihr leckeres warmes Essen, Blumen und eine Karte. Toni, die ebenfalls in der Nachbarschaft lebte, traf sich oft mit Molly zu einem Spaziergang.
Rachel hinterließ gern eine Kleinigkeit auf der Veranda der Bakers, zum Beispiel Pralinen, ein selbst gemachtes Geschenk, eine handgeschriebene Notiz. Janna aus der Kirchengemeinde traf sich mit Molly zum Mittagessen und schickte ihr Textnachrichten.
Jeden Tag meldete sich jemand mit einem freundlichen Wort, einer Einladung zum Kaffee, einem Angebot, eine Flasche Milch zu bringen – Loren an einem Morgen, Tiffanie am nächsten Nachmittag. Und am Ende eines Monats begannen die Kalendergirls den Turnus von vorn.
Für Mollys ersten Valentinstag ohne Marlin, fast ein Jahr nach dessen Tod, wollte Carla etwas ganz Besonderes machen. Sie bastelte drei „Valentinstags-Briefkästen“ – mit Glitzer und Herzchen verzierte Schuhkartons, jeweils einen für Molly, deren Schwester Kathy und Samuel. Dann stellte sie die Kartons auf die Veranda und lud die Kalendergirls per E-Mail dazu ein, etwas zu abzulegen. „Sie brachten Kekse, Blumen und Karten, es war wirklich schön“, erzählt Carla.
Wenn Molly auf das Jahr nach Marlins Tod zurückblickt, ist sie sehr traurig und gleichzeitig sehr dankbar. „Ich hatte zuvor noch keinen großen Verlust erlitten, daher wusste ich nicht, wie wichtig es ist, so viel Unterstützung zu haben“, bekräftigt sie. Samuel und sie hatten auf unterschiedliche Weise mit dem Verlust zu kämpfen, aber jetzt geht es ihnen gut. Er geht aufs College und sie selbst studiert wieder, um einen Master in Beratung und Psychologie zu machen. Danach will sie als Therapeutin andere durch schwere Zeiten begleiten.
Carlas Kalenderidee verbreitete sich
Nachdem Jannas Mann John im Jahr 2022 an Lungenkrebs gestorben war, gründete Carla eine weitere Gruppe von Kalendergirls, zu der auch Molly gehörte. „Sie haben mich durch die dunklen Winternächte getragen“, sagt Janna über ihre Unterstützerinnen. Anfang 2024 wirkte Molly bei der Erstellung eines weiteren Kalenders für eine Freundin mit, deren Mann an einem Herzinfarkt starb. Carla wiederum hat Janna kürzlich geholfen, einen Kalender für die Mutter einer anderen Freundin zu organisieren. Es überrascht Molly nicht, dass Carla weiterhin für alle da ist, wenn sie Hilfe brauchen. „Sie gehört zu den Menschen, die immer an andere denken, und sie hat ein wirklich großes Herz“, lobt Molly ihre Freundin. Auch Jahre später ist Carla am 24. eines jeden Monats immer für die Witwe da, um sie bei der Erinnerung an Marlin zu unterstützen.
„Wenn jemand stirbt, wissen Bekannte und Freunde oft nicht, was sie tun oder sagen sollen, und so tun sie oft gar nichts“, bedauert Molly. „Deshalb ermutige ich die Leuten immer: ‚Tun Sie einfach irgend etwas.‘“ Carla stimmt zu: „Man muss nicht immer ein paar Worte wechseln, wenn jemand trauert“, findet sie. „Es ist in Ordnung, wenn man sich einfach zu ihm oder ihr setzt. Wichtig ist das Gefühl, dass man nicht allein ist.“