Menschen

Autor: Annette Lübbers

Frauenschreie in der Nacht

Eine befindet sich Frau in höchster Not. Katja Schultz-Metze hört die Schreie, springt aus dem Bett und sprintet sofort los.

Katja Schultz-Metze

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©© Jens Nieth

In der Nacht vom 28. Juni 2020 schläft Katja Schultz-Metze bei weit geöffnetem Fenster. Ihr Schlafzimmer im Erdgeschoss des Hauses der Familie bietet Blick auf Wiesen, eine Pferdekoppel und Bäume. Hinter den Bäumen liegt eine Golfanlage. Etwa 400 Meter Luftlinie trennen das Haus in Schloß Holte-Stukenbrock bei Bielefeld und den Golfplatz. Zwischen zwei und drei Uhr schreckt die 58-Jährige aus dem Schlaf. „Nein, bitte nicht. Nein. Nein!“ Panik liegt in der Frauenstimme, die in der Stille der Nacht deutlich zu hören ist. Katja Schultz-Metze ist sofort klar: Da ist jemand in höchster Not. „Der Golfplatz. Die Stimme kommt vom Golfplatz“, sagt sich die Heilpädagogin und springt aus dem Bett.

Ihr Mann und ihre Tochter schlafen auf der anderen Seite des Hauses. Sie werden nichts gehört haben, und es bleibt keine Zeit, sie zu wecken. Barfuß, nur mit einer kurzen Schlafanzughose und einem T-Shirt bekleidet, sprintet Schultz-Metze zu ihrem Auto. Sie vertraut darauf, dass sie mal wieder den Schlüssel hat stecken lassen. So ist es. Schultz-Metze lässt den Motor an. Sekunden später erreicht sie die Hauptstraße. Außer ihr ist niemand unterwegs. Zur Einfahrt der Golfanlage braucht die Helferin kaum eine Minute. Im Licht ihrer Scheinwerfer erkennt sie in einer Parkbucht einen Lieferwagen. Davor kämpfen ein groß gewachsener Mann in dunkler Kleidung und eine schlanke, junge Frau miteinander. Schultz-Metze schätzt sie auf Mitte 20. Der Mann hat sie an den Oberarmen gepackt. Die Frau windet sich, versucht sich loszureißen - vergebens. Die Träger ihres Oberteils hängen herab, ihre Haare sind zerzaust.

Sie hupt laut. Das irritiert den Angreifer. 

Schultz-Metze drückt auf Lichthupe und Hupe. Grell zerreißt der Alarmton die Stille der Nacht. Doch der Mann wendet sich nur kurz um, die Heilpädagogin kann sein Gesicht nicht erkennen. Dann zerrt er sein Opfer zum Lieferwagen, stößt es gewaltsam auf den Beifahrersitz. Er schlägt die Tür zu, sprintet auf die Fahrerseite, setzt sich hinters Steuer. Schultz-Metze versucht sich das Nummernschild einzuprägen.

Bis zu diesem Moment hat die Helferin instinktiv gehandelt. Jetzt trifft sie eine bewusste Entscheidung: „Ich darf ihn nicht mit der Frau wegfahren lassen.“ Sie drückt aufs Gaspedal, überholt den anfahrenden Lieferwagen, blockiert ihm den Weg. Hektisch winkt sie dabei der jungen Frau zu, die sie jetzt nur als Schatten wahrnimmt. Diese reagiert zunächst nicht, aber dann springt sie aus dem Lieferwagen und rettet sich in Schultz-Metzes Auto. Kaum hat sie die Tür hinter sich zugezogen, gibt die mutige Helferin Gas. Nur weg hier!

Mit ihrem Auto bringt die Retterin die junge Frau in Sicherheit 

Die beiden Frauen sind schon auf der Hauptstraße, als Schultz-Metze einen Seitenblick auf die Gerettete riskiert. Diese ringt um Atem, weint und wimmert vor sich hin. Das Grauen, das sich in ihrem Gesicht spiegelt, nimmt auch die Heilpädagogin mit. Am liebsten würde sie schreien, aber sie hat sich in ihrer Ausbildung mit traumatisierten Menschen beschäftigt und weiß, dass sie ruhig bleiben muss. Ganz ruhig.

Das sagt sie auch zu der Geretteten: „Ganz ruhig! Tief durchatmen! Du bist jetzt in Sicherheit.“ Die jungen Frau neben ihr reagiert nicht. „Wir müssen uns unbedingt das Nummernschild merken“, sagt Schultz-Metze. Keine Reaktion. „Okay, ich fahre dich jetzt zur nächsten Polizeiwache.“ Zunächst klingelt Schultz-Metze dort vergeblich. Niemand öffnet. Die junge Frau ist ebenfalls ausgestiegen und hat sich auf die Treppe gesetzt. Bislang hat sie noch kein Wort gesprochen. Kurz darauf biegt ein Streifenwagen mit zwei Beamten auf den Parkplatz ein. Einer der Polizisten lässt die Scheibe herunter. „Das sieht vielleicht komisch aus“, beginnt Schultz-Metze zu erklären, der erst jetzt so richtig bewusst wird, dass sie barfuß und nur spärlich bekleidet ist. Die Polizisten steigen aus.

Schultz-Metze schildert, was sie erlebt hat. Einer der Beamten zückt sein Handy. Mit wem er telefoniert, bekommt die Retterin nicht mit. Die beiden Frauen werden in getrennte Räume geführt. „Eine Kriminalkommissarin aus Bielefeld ist auf dem Weg“, sagt einer der Polizisten. Erst um sechs Uhr morgens ist Schultz-Metze wieder zu Hause. Sie legt sich ins Bett, aber schlafen kann sie nicht, dafür ist sie noch zu aufgewühlt. Gegen neun fährt sie mit der Kriminalbeamtin, vor der sie noch in der Nacht ausgesagt hat, zum Tatort.

Fünf Tage später wird der Angreifer verhaftet

Bis auf eine Ziffer hatte sich Schultz-Metze das Kennzeichen seines Lieferwagens richtig gemerkt. Bei der Gerichtsverhandlung sagt sie aus. Das Urteil lautet: dreieinhalb Jahre Haft. „Die Indizienkette war wohl ziemlich lückenlos“, berichtet die Retterin. „Es gab DNA-Spuren und das Handy des Täters war in jener Nacht zur Tatzeit in der entsprechenden Funkzelle eingebucht.“
Die junge Frau hat sie nicht wiedergesehen, aber noch lange hatte sie ihre Schreie in den Ohren.