Gedankenschnell gehandelt und ein kleines Mädchen gerettet
Ein Kind steckt in Berlin in einer U-Bahn Tür fest. Die U-Bahn fährt los! Inan Göl eilt ihm zu Hilfe.

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Gegen 16 Uhr herrscht am 3. September 2020 Hochbetrieb am Berliner U-Bahnhof Wittenau. Menschen kommen von der Arbeit, Kinder aus der Schule. Vor Inan Göls Bahnsteigkiosk mustern zwei Mädchen, offensichtlich Schwestern, die Schokoriegel und Kaugummis. Später wird Göl erfahren, dass die beiden sechs und acht Jahre alt sind. Er tritt zu ihnen hinaus. „Wollt ihr etwas kaufen?“, fragt der 23-Jährige die Kinder freundlich. Sie lächeln ihn an, sagen, sie wollten nur gucken. Göl mag es nicht, wenn so junge Kinder sich hier unten allein aufhalten, aber es wundert ihn nicht mehr. In seinem Job hat er schon vieles erlebt.
Seit er 18 ist, betreibt Göl seinen U-Bahn-Kiosk, direkt auf dem Bahnsteig der Linie 8. Die langen Tage ohne Sonnenlicht, das ständige Ein- und Aussteigen unzähliger Menschen, die gelben, 100 Meter langen U-Bahnen, die alle fünf Minuten zu ihrer unterirdischen Reise losrauschen – all das ist Routine für ihn. Doch dieser Nachmittag wird sich in sein Gedächtnis einbrennen.
Das kleine Mädchen steckt in der U-Bahn-Tür fest!
Denn plötzlich rennt das kleinere Mädchen los. Zu einer U-Bahn, aus deren Lautsprechern bereits „Zurückbleiben, bitte!“ schallt. Die ältere Schwester ruft: „Komm zurück!“ Doch die Sechsjährige steckt ihren rechten Arm zwischen die Türen, die sich mit einem Warnton und rot blinkenden Lichtern bereits schließen. Vermutlich glaubt sie, diese wieder aufschieben zu können. Doch die Tür bleibt zu. Und nicht nur das: Die U-Bahn setzt sich in Bewegung!
Kioskbesitzer Göl, der das Mädchen nicht aus den Augen gelassen hat, überlegt keine Sekunde. Er spurtet los. „Man funktioniert einfach“, erzählt er. Mit drei, vier Schritten ist er bei dem nun eingeklemmten Kind, zieht an dessen Arm. Warum bemerkt der U-Bahn-Fahrer nichts? Göl kann nur vermuten, dass die dramatische Szene vom Führerstand aus schlicht nicht zu sehen ist.
Das Mädchen kreischt vor Angst
Die Bahn nimmt Fahrt auf. Das Mädchen hängt weiter in der Tür fest. Ihre Beine hat sie angezogen, sie kreischt jetzt vor Angst. Göl spurtet neben der Bahn her. Mit beiden Händen hält er den Arm der Kleinen fest umklammert. Er zieht und zieht, doch er kann das Kind nicht aus dem Türspalt befreien. Die Bahn wird schneller. Göl stemmt sich im Laufen gegen die Fahrtrichtung. Ein Ruck geht durch das Fahrzeug, als es erneut beschleunigt, und bringt den Kioskbesitzer zu Fall. Hart schlägt er auf dem Bahnsteig auf. Das Mädchen aber hält er eisern fest.
Auf dem Rücken wird Göl über den Bahnsteig geschleift. Fünf Meter, zehn Meter. Nach etwa 20 Metern verlässt ihn die Kraft. Er stemmt im Training 200-Kilo-Gewichte, aber gegen die U-Bahn, 140 Tonnen schwer und nun mit etwa 20 bis 30 km/h unterwegs, hat er keine Chance. Sie reißt ihm das Kind aus den Händen. U-Bahn und Mädchen verschwinden im Tunnel.
Fahrgäste haben den Notknopf betätigt
Noch auf dem Rücken liegend schreit Göl den Passagieren im letzten Waggon hinterher: „Notbremse ziehen!“ Den Menschen, die eben erst in der Haltestelle eintreffen und sich wundern, warum dort ein Mann auf dem Bahnsteig liegt, ruft er „zur Notrufsäule!“ zu. Eine Menschentraube bildet sich um ihn. Göl schildert, was geschehen ist. Ein U-Bahn-Mitarbeiter und ein Passant springen ins Gleisbett und laufen in den Tunnel. Sie finden das Mädchen kurz vor der nächsten Station neben den Schienen. Der U-Bahn-Fahrer hatte die Fahrt gestoppt, weil Fahrgäste den Notrufknopf betätigt und mit Fäusten gegen seine Tür gehämmert hatten.
Inan versorgt die schockierte Schwester des Unfallopfers
All das kann Inan Göl vom Bahnhof Wittenau nicht sehen. Der Kioskbesitzer ist nun wieder auf den Beinen. Die Schmerzen im Rücken wird er erst später spüren. Jetzt gilt seine Sorge dem älteren Mädchen. Wimmernd, starr und blass vor Schock steht sie noch immer vor seinem Kiosk. Göl versorgt sie mit Wasser und Süßem, für den Kreislauf.
Dann sind Polizei und Rettungskräfte da. Die Sanitäter verschwinden im Tunnel. Als sie zurückkehren, haben sie die Sechsjährige auf einer Trage dabei. Göl kann einen Blick auf das Mädchen erhaschen: Die Kleine ist bewusstlos, ihr Kopf bandagiert. Aber: Sie lebt. Das sagt ihm der Passant, der ins Gleisbett gesprungen ist. Der 23-Jährige schließt seinen Kiosk, geht nach Hause, duscht.
Rettungsmedaille des Landes Berlin
Am nächsten Tag spricht ein Bahnmitarbeiter ihn an: „Einige Meter weiter, und du wärst in voller Fahrt gegen die Tunnelmauer geprallt! Dann wärst du nicht mehr hier.“ Für das Mädchen war der Spalt zum Glück groß genug. Dafür, dass er sein Leben riskiert hat, um sie zu retten, erhält Göl später die Rettungsmedaille des Landes Berlin.
Was aus dem Kind wurde, weiß er lange nicht. Bis – anderthalb Jahre nach dem Vorfall – ein Mann vor seinem Kiosk steht, um Zigaretten zu kaufen. Er schaut Göl an und sagt: „Du bist ein Held!“ Der Mann erzählt, dass seine Tochter dieselbe Klasse wie das verunglückte Mädchen besuche. Dieses sei zwar immer noch in ärztlicher Behandlung, gehe aber wieder regelmäßig zur Schule. Auf solch eine Nachricht hatte Göl gewartet: „Bis dahin habe ich mich täglich gefragt, wie es ihr geht.“