Menschen

Autor: Annette Lübbers

Gefangen im alten Schacht eines Stahlwerks

Eine Joggerin hat sich in einem Schacht in einem Park in Bochum verirrt. Polizeioberkommissarin Anna Striepeke hilft ihr zurück ans Tageslicht.

Anna Striepeke hilft der vermissten Joggerin zurück ans Tageslicht

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©© Jens Nieth

Der Park in Bochum liegt noch im Dunkeln, als Polizeioberkommissarin Anna Striepeke ihren Dienst antritt. Es ist morgens um fünf, und schon seit dem Nachmittag des Vortages wird eine Joggerin vermisst. Bereits in der Nacht zum 21. Februar 2020 hatte ein Suchhund ihre Fährte aufgenommen und die Beamten in den Park geführt. Auf dem Gelände stand vor vielen Jahren ein Stahlwerk. Dort hat der Hund die Spur verloren. Die ganze Nacht hat ein Polizeitrupp mit Hubschrauberunterstützung das Gebiet abgesucht. Vergeblich. Anna Striepeke und ihre Kollegen von der Tagschicht leuchten Wege, Bäume und Gestrüpp ab, horchen auf Hilferufe. Es wird hell. Zwei Fachleute vom Bochumer Studienkreis für Bunker, Stollen, Deckungsgräben und unterirdische Fabrikationsanlagen e. V. stoßen zu den Polizisten. Der Sohn der Vermissten hatte kurz vor ihrem Verschwinden mit ihr telefoniert. „Es kann sein, dass gleich der Kontakt abreißt. Ich laufe durch einen Tunnel“, hatte sie gesagt. Deshalb kontrollieren die Experten die alten Zugänge zu den Versorgungskellern des Stahlwerks. Alle sind ordnungsgemäß verschlossen.

Ein ungesicherter Tunneleingang! 

Doch dann stehen Striepeke, ein Kollege und die Experten vor einem weiteren Eingang, dessen Sicherung offenbar jemand zur Seite geschoben hat. Dahinter liegt eine Öffnung, die auf Anna Striepeke wie die Öffnung zu einem größeren Fuchsbau wirkt. Sie bespricht sich kurz mit dem Kollegen: Er wird den Funkkontakt zur Einheit halten, während sie mit den Männern vom Verein hinuntersteigt. „Wie weit es da wohl in die Tiefe geht?“, fragt sich die 31-Jährige. Dann atmet sie tief durch und folgt den beiden Experten.

Nach etwa zehn Metern Rutschen auf dem Hosenboden steht Striepeke in einem mannshohen Gang. Der Strahl ihrer Taschenlampe flackert über Schutt und alte Rohre. Die Luft ist stickig. „Achten Sie auf Ihre Füße. Und passen Sie auf, dass Sie sich nirgendwo den Kopf stoßen“, sagt einer der Männer. Die beiden haben ein Messgerät dabei, das den Sauerstoffgehalt misst. Liegt dieser zu niedrig, wird es die Retter warnen. 

Die Retter hören seltsam gedämpfte Hilferufe. Sie kommen von unten!

Plötzlich ein Geräusch. Die Polizeioberkommissarin lauscht. Tatsächlich! Wie aus weiter Ferne dringen leise Hilferufe an ihr Ohr. Striepeke schiebt sich zurück in den Tunneleingang. „Wir hören Hilferufe“, sagt sie ihrem Kollegen. Dann tasten sich die Retter vorsichtig den Gang entlang. Die Lichtkegel ihrer Taschenlampen huschen über nackte Betonwände. Immer wieder bleiben die drei stehen und lauschen. Die Hilferufe werden lauter, klingen aber seltsam gedämpft. Schließlich stehen die Retter vor einer Metallplatte am Boden. Die Rufe kommen von dort. Gemeinsam wuchten sie die etwa 100 Kilogramm schwere Metallabdeckung zur Seite. Sie sichert einen Revisionsschacht des Abwasserkanals, der unter dem Gelände verläuft. In diesem Moment durchdringt ein schrilles Piepen ihr Keuchen. Das Messgerät! Der Sauerstoffgehalt der Luft liegt jetzt gefährlich niedrig.
Endlich ist der Schacht offen und gibt den Blick auf eine etwa 40-jährige Frau frei. Sie trägt schmutzige Sportkleidung und klammert sich an die Sprossen einer Leiter, die ins Dunkel hinabführt. Die Retter greifen die Verunglückte unter den Achseln und ziehen sie aus dem Schacht. Sie müssen sich beeilen, nicht nur wegen des zu niedrigen Sauerstoffgehalts der Luft. Die Joggerin kann nicht stehen, geschweige denn gehen. Die Retter stützen sie von beiden Seiten und laufen so schnell es ihr Zustand zulässt zurück zum Einstieg, durch den sie gekommen sind. 

Ein Kran zieht die Verunglückte nach oben

Die Öffnung ist mittlerweile grell ausgeleuchtet. Feuerwehrmänner haben sie erweitert und eine Trage herabgelassen. „Sie müssen sich da hineinlegen“, fordert Anna Striepeke die Verunglückte freundlich auf. „Das kann ich nicht. Mir tut alles weh“, jammert die Verunglückte. „Das muss jetzt aber sein“, sagt die Polizistin. Tatsächlich gelingt es ihr, die Frau sanft, aber bestimmt auf der Trage anzuschnallen. Dann klettern die drei Retter den Gang hinauf. Gleich darauf zieht ein Kran die Verunglückte nach oben. Zurück im Tageslicht wird der Retterin schwindelig. Sie blickt auf die Uhr: 11.30 Uhr. Anderthalb Stunden hat sie unter der Erde verbracht! Eine Notärztin kümmert sich um die Gerettete. An der frischen Luft verfliegen Striepekes Schwindelgefühle zum Glück schnell. Ein Sanitäter prüft vorsichtshalber ihre Vitalwerte: alles in Ordnung. Mit den Kollegen fährt die Retterin in ihrer verdreckten Uniform auf die Wache. „Ein paar Minuten haben wir über diese ungewöhnliche Schicht gesprochen. Dann bin ich nach Hause gegangen“, erinnert sie sich.

Das Land Nordrhein-Westfalen hat Anna Striepeke die Rettungsmedaille verliehen

Für ihren Einsatz erhält Anna Striepeke später die Rettungsmedaille des Landes NRW. „Wie und warum die Joggerin unter die Erde geraten ist, weiß ich bis heute nicht. Ich bin einfach nur froh, dass wir sie rechtzeitig gefunden haben und sie keine bleibenden Schäden davongetragen hat“, sagt die Retterin.