Meghans Vermächtnis
Ein Mädchen stirbt bei einem Skiunfall. Doch ihr Tod schenkt zwei Menschen ein neues Leben.
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Chris Nelson, 24, war ein energiegeladener, unbekümmerter junger Mann. Er arbeitete in einer Schuhfabrik in Holmen im US-Bundesstaat Wisconsin. Dort schleppte er den lieben langen Tag Halbzentnersäcke mit Chemikalien. Am Wochenende schwang er sich gern aufs Fahrrad und legte mal eben 50 Kilometer zurück. Oder er fuhr mit seinem Motorrad spazieren. Doch im Dezember 1994 wurde plötzlich alles anders: Chris fühlte sich mit einem einem Mal schlapp und müde. Er ging zum Arzt. Diagnose: Hepatitis C. Sein Zustand verschlechterte sich rapide. Einen Tag nach Weihnachten musste Chris von einem Rettungswagen in die Universitätsklinik von Wisconsin gebracht werden. Bald darauf fiel er ins Koma, aus dem er nur sporadisch erwachte. Am Freitag, dem 13. Januar 1995, eröffneten ihm die Ärzte die grausame Wahrheit: „Wenn Sie nicht binnen 48 Stunden eine neue Leber bekommen, müssen Sie sterben.“
Kristins Geschichte
500 Kilometer von Chris entfernt rang Kristin Gabrielson nach Luft. Noch wenige Tage zuvor war die 24-Jährige künstlich beatmet worden – und dem Tod nah. Sie überlebte die Krise. Doch sie fragte sich, wie lange sie es wohl noch schaffen würde, denn Kristin hatte sich in ihrem jungen Leben schon viel mit Krankheiten herumgeschlagen. Mit 18 Jahren hatte sie die sogenannte Hodgkin-Krankheit bekommen – eine bösartige Veränderung der Lymphknoten. Nach monatelanger Chemotherapie und Bestrahlung war der Tumor zwar zurückgegangen. Aber durch die Strahlentherapie war die Lunge der jungen Frau für Infektionen anfällig geworden.
Trotzdem nahm Kristin eine Teilzeitstelle bei der Polizei an und schrieb sich am College ein; sie wollte Polizistin werden. Doch ihre Atembeschwerden wurden immer schlimmer. Mit 22 Jahren war sie so geschwächt, dass sie ihre Arbeit aufgeben musste. Schließlich erklärte ihr der Arzt, dass es für sie nur eine einzige Chance auf Besserung gebe: eine Lungentransplantation. Kristin blieb nicht mehr viel Zeit. Sie war von 66 auf 43 Kilogramm abgemagert. Und sie atmete jetzt rund um die Uhr Sauerstoff aus der Flasche und war so schwach, dass sie beim Treppensteigen eine halbe Stunde von einem Absatz zum nächsten brauchte.
Zeit zum Loslassen
„Nein!“, rief Connie Hickerson spontan, als Ärzte der Universitätsklinik fragten, ob sie die Organe ihrer Tochter zur Transplantation freigebe. Connie wusste zwar, dass Meghan ein Ja von ihr erwartet hätte. Doch die Mutter brachte es nicht übers Herz, diese Entscheidung zu fällen. Noch nicht. Konnte das wahr sein? Vor 24 Stunden war die 14-jährige Oberschülerin Meghan noch beim Skifahren. Sie war eine gute Sportlerin und an ihrer Schule allseits beliebt. Als sie an diesem 14. Januar 1995 auf einem Anfängerhang anhielt, rutschte sie plötzlich rückwärts. „Was mache ich jetzt?“, rief sie noch lachend Umstehenden zu. Sekunden später stürzte sie dreieinhalb Meter tief in eine Schlucht – und erlitt einen tödlichen Schädelbruch.
Ihr Vater Jim nahm die Hand seiner Frau: „Denk mal nach, Connie“, sagte er sanft. „Stell dir vor, irgendwo läge jetzt Meghan und würde auf ein Organ warten, das ihr das Leben rettet ...“ Connie betrachtete den leblosen Körper ihrer Tochter und schüttelte den Kopf. Die nächsten Stunden hielt sie Meghan fest und wiegte sie wie ein Baby. Erinnerungen gaben ihr ein wenig Trost. Gedanken an das Mädchen, das im Freundeskreis berkannt dafür war, Menschen zusammenzuführen – sie wusste, wer zu wem passte. An Meghan, die sich nie so leicht von etwas abschrecken ließ. Ihr Motto lautete nämlich „Nur keine Bange!“. Wenn sie etwa zum Theaterspielen auf die Bühne ging und ihre Mutter ihr „toi, toi, toi!“ wünschte, lächelte Meghan nur und sagte: „Keine Bange, Mama.“ Ihr war wirklich nie bange.
Connie herzte ihr Kind noch einmal. Und sie sang die Lieblingslieder ihrer Tochter, darunter eines, das Meghan „das Lied zum Alleingehen“ genannt hatte: „Gehst du durchs Ungewitter, trag den Kopf hoch, und fürchte die Dunkelheit nicht.“ Connie weinte. Dann suchte sie Trost im Gebet. Das richtete sie auf. Es ist Zeit zum Loslassen, sagte sie sich.
Lebensrettende Geschenke
Am selben Abend klingelte bei den Gabrielsons, den Eltern von Kristin, das Telefon. „Wir haben eine Lunge für Kristin“, sagte eine Krankenschwester der Universitätsklinik. Bevor Kristin wenig später im Operationssaal verschwand, verabschiedete sie sich mit einem Siegeszeichen von ihren Eltern. Zwei Stockwerke tiefer bekam Chris Nelson nur halb mit, wie man ihn für die Operation vorbereitete. Dann wurde alles schwarz vor seinen Augen. Die Leberverpflanzung bei Chris dauerte zehn Stunden. Als er aufwachte, hatte er einen Beatmungsschlauch im Mund, weshalb ihm sein Vater einen Notizblock mit Stift reichte. Chris, noch kaum bei Bewusstsein, kritzelte fünf verwackelte Buchstaben auf den Block: I, dann L U V, dann U: I love you, ich liebe euch, sollte das heißen. Seine Angehörigen brachen in Tränen aus.
Bei Kristin dauerte die Operation zwölf Stunden. Wie Chris erholte auch sie sich nur sehr langsam von dem Eingriff. Aber nach einigen Wochen stellten ihr die Ärzte einen Heimtrainer ins Zimmer. Vor der OP war sie schon allein vom Aufstehen außer Atem gekommen – jetzt konnte sie immerhin schon wieder zehn Minuten in die Pedale treten. Am 27. Februar fuhr Kristin zurück nach Hause. Fünf Tage später konnte Chris nach Holmen heimkehren. Chris und Kristin hatten sechs Wochen im selben Krankenhaus gelegen – einander aber nie zu Gesicht bekommen.
Im Frühjahr lernte Kristin auf einem Symposium über Organspenden die Eltern von Meghan kennen. Sie war von Jims und Connies Warmherzigkeit so überwältigt, dass sie auf den jungen Mann, der Meghans Leber bekommen hatte, nicht weiter achtete. Chris bemerkte Kristin zwar, sie erschien ihm aber nicht besonders zugänglich. Als Meghans Vater jedoch die jungen Leute so nebeneinander stehen sah, flüsterte er Connie zu: „Wäre es nicht schön, wenn sich die beiden zusammentäten? Ich glaube, das würde sich unsere Tochter wünschen.“
Nachtgespräche
Kristin wurde im April 1996 zu einer Benefizveranstaltung für die Klinik, in der sie ihre neue Lunge erhalten hatte, eingeladen. Da fiel ihr Chris ein. Ob er wohl auch da wäre? Kristin hatte das Gefühl, dass es für sie beide wichtig war, einander zu unterstützen. Deshalb schickte sie ihm eine Postkarte. Chris freute sich so darüber, dass er sie anrief. Bald tauschten sie sich über ihre Leidensgeschichten aus. „Ich weiß gar nicht, ob ich mich je wieder richtig gesund fühlen werde“, vertraute Chris ihr an. „Das kenne ich“, antwortete Kristin. „Wenn ich auch nur einen schlechten Tag habe, fürchte ich gleich, dass alles wieder von vorn losgeht.“ So redeten sich die beiden ihre Sorgen und Nöte von der Seele. Mitternacht wurde es darüber. Kristin konnte es kaum fassen – über drei Stunden hatte das Gespräch gedauert.
Ein paar Tage später trafen sie sich bei der Veranstaltung. Doch Kristin war dem jungen Mann gegenüber befangen. Hatte sie am Telefon zu viel über sich preisgegeben? Dann war der Tag vorbei, Chris war wieder fort. „Ich kann nicht glauben, dass ich ihn einfach so habe weggehen lassen“, sagte Kristin zu Meghans Mutter. „Rufen Sie ihn doch einfach mal an“, meinte Connie.
Kristin schüttelte den Kopf. „Einen Mann einfach so anzurufen, das liegt mir nicht.“
„Habe ich Ihnen je erzählt, welches Motto Meghan hatte?“, fragte Connie. „Es hieß: Keine Bange! Meghan hat sich nie durch Angst davon abhalten lassen, ihr Leben voll auszukosten. Das haben auch Sie nicht nötig.“
Der Kinobesuch
Noch am selben Abend hinterließ Kristin eine Nachricht auf Chris’ Anrufbeantworter. Ein paar Tage später läutete ihr Telefon: „Rate mal, wo ich bin“, sagte Chris. „Ich bin im Krankenhaus und muss untersucht werden.“ Es sah so aus, als ob sein Immunsystem die fremde Leber abstieß. „Hättest du etwas gegen einen Besuch?“, fragte Kristin. „Ganz im Gegenteil“, antwortete Chris. „Gehst du gern ins Kino?“ O Gott, dachte Kristin, jetzt habe ich mich doch wirklich verabredet! Nach dem Kino gingen Kristin und Chris essen, dann redeten sie bis fünf Uhr in der Früh. Kristin erzählte, wie schwer es für sie sei, sich mit Freundinnen von früher zu unterhalten. „Die reden nur von Kleidern und Partys“, sagte sie. „Mir ist jetzt anderes wichtiger geworden.“
Am nächsten Tag musste Chris sich einer diagnostischen Operation unterziehen. Die gute Nachricht: Seine neue Leber wurde nicht abgestoßen.
Als er aus der Narkose erwachte, fragte er als Erstes: „Ist Kristin da?“ Sie war da. Die vierstündige Entfernung zwischen ihren Wohnorten erschien ihnen jetzt gering. „Keine Bange!“
An einem strahlenden Tag im Juni 1996 lud Chris Kristin zu einer Motorradfahrt ein. Kristin genoss den Fahrtwind und die Wärme, die sie spürte, als sie ihre Arme um Chris legte. Nach einer Weile fuhren sie an einem Autowrack vorbei. Irgendwie kam es Kristin so vor, als sei dieser Wagen ein Sinnbild für ihren früheren Gesundheitszustand. Da sah sie im Heckfenster einen Aufkleber: „Keine Bange!“ Plötzlich hatte Kristin das Gefühl, Meghan sei zugegen. Sie gibt uns ihren Segen, dachte sie und drückte Chris noch ein wenig fester.






