Mutiges Bremsmanöver auf der B59
Eine Frau verliert die Kontrolle über ihr Auto. Olaf Day setzt sich mit seinem Wagen vor ihren und bringt ihn schließlich zum Stehen.

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Es gibt nicht viele Werktage, an denen Olaf Day vor 18 Uhr den Heimweg antritt. Der 57-Jährige arbeitet als Abteilungsleiter bei einem Energieunternehmen in Köln. Etwa 35 Minuten braucht er normalerweise für die Strecke zwischen dem Büro und seinem Wohnort Rommerskirchen, die ihn auf der Bundesstraße B 59 Richtung Nordwesten führt. Am 21. September 2020 fährt der Ingenieur ausnahmsweise anderthalb Stunden früher als üblich los. Das letzte Meeting hat nicht so lange gedauert wie erwartet. Day freut sich auf ein entspanntes Abendessen mit seiner Frau. Vielleicht schafft er es danach ja auch noch, den Rasen zu mähen?
Um diese Uhrzeit herrscht reger Verkehr. Day hat etwa die Hälfte des Wegs hinter sich, als er abrupt aus seinen Gedanken gerissen wird. 60 bis 70 Meter vor ihm schießt eine schwarze Limousine ungebremst ohne erkennbaren Grund von der rechten Spur quer über die Bundesstraße auf die Gegenfahrspuren. Sekundenbruchteile später rammt sie dort die Leitplanke und wird von der Wucht des Aufpralls über alle Spuren zurückgeschleudert und schleift dann in Days Fahrtrichtung an der Leitplanke entlang. Noch immer leuchten die Bremslichter der Limousine nicht auf. „Mit der Person, die dieses Auto fährt, kann etwas nicht stimmen“, sagt sich Day. „Da hat jemand völlig die Kontrolle verloren.“
Die Wagen vor ihm fahren rechts ran. Day befürchtet, die schwarze Limousine könne erneut ausbrechen, sich womöglich überschlagen. Dann wäre nicht nur der Fahrer oder die Fahrerin in Lebensgefahr. Er gibt Gas. Gleich darauf ist er auf Höhe des schwarzen Autos. Er wirft einen schnellen Blick hinüber. Am Steuer sitzt eine junge Frau. Ihre Haltung ist unnatürlich steif, sie scheint starr geradeaus zu schauen.
Sollte die Limousine sich überschlagen, wäre nicht nur ihr Fahrer in Gefahr
Day überlegt nicht lange. Er beschleunigt noch einmal, überholt den Wagen der Frau, zieht dann nach rechts und setzt sich vor sie. In diesem Moment ist Day froh, dass auch er ein schweres Auto fährt. Sorgfältig achtet er darauf, sich der Geschwindigkeit des Unfallwagens anzupassen. Dann beginnt er zu bremsen. So vorsichtig, dass er kaum spürt, wie der Wagen auf sein Heck prallt. Im nächsten Moment brüllt der Motor der schwarzen Limousine auf. Offensichtlich befindet er sich im Leerlauf. Das ist Days Chance. Er bremst stärker, behält dabei den Rückspiegel im Auge. Die Limousine bleibt in der Spur. Schließlich kommen beide Fahrzeuge zum Stehen. Day zieht die Handbremse, schaltet die Warnblinkanlage an und springt aus seinem Auto.
Mit ein paar Schritten ist er beim Unfallwagen. Er will die Fahrertür öffnen, doch sie klemmt. Schließlich gelingt es ihm doch sie aufzureißen. Der Geruch von verbranntem Gummi schlägt ihm entgegen. Waren Keil- und Steuerriemen im Leerlauf zu viel Reibung ausgesetzt? Droht der Wagen in Brand zu geraten? Dann kommt es auf Sekunden an!
Die Fahrerin ist ohnmächtig
Day wirft einen Blick auf die Fahrerin. Sie hat Speichel vor dem Mund, ihr Gesichtsausdruck ist erstarrt. Ihre Augen sind geöffnet, aber sie ist bewusstlos. Day zieht den Schlüssel aus dem Zündschloss. Dann löst er den Sicherheitsgurt. Dank der regelmäßigen Erste-Hilfe-Kurse, die er bei seinem Arbeitgeber absolviert hat, weiß der Retter, was er zu tun hat: Den Oberkörper der Fahrerin nach vorn beugen, seinen rechten Arm um ihre Schulter legen. Dann müsste er sie drehen, ihre Unterarme vor ihrer Brust verschränken, seine Arme unter ihren Achseln hindurch schieben und ihre Unterarme fassen, um sie aus dem Fahrzeug zu ziehen. Aber die steife Körperhaltung der Frau macht das unmöglich. Sie ist gleichsam hinter dem Steuer verkeilt. Day kann den Griff nicht richtig ansetzen. Die Zeit drängt, doch er müht sich vergeblich.
Plötzlich steht eine Frau neben ihm, die helfen will. Gemeinsam gelingt es den beiden, die Verunglückte aus ihrem Wagen zu befreien. Aus einem der anderen Fahrzeuge ist ein Feuerwehrmann ausgestiegen. Olaf Day macht ihm Platz, er weiß die Frau jetzt in guten Händen. Kaum haben Feuerwehrmann und Helferin die Fahrerin in die stabile Seitenlage gebracht, als auch schon ein Feuerwehrauto eintrifft – der Kollege hat einen Notruf abgesetzt. Wenige Sekunden später ist das erste Polizeiauto vor Ort, gefolgt von einem Rettungswagen. Die Sanitäter versorgen die Frau. Ein Polizist befragt Day nach dem Unfallhergang und nimmt seine Personalien auf. Dann darf er heimfahren. Dass die Verunglückte noch vor der Abfahrt des Rettungswagens in die Klinik wieder bei Bewusstsein war, erfüllt ihn mit Erleichterung.
Zu Weihnachten bekommt Day einen Präsentkorb – ein Dankeschön der jungen Frau, die er gerettet hat. „Ich bin froh, dass der Unfall für sie so glimpflich ausgegangen ist. Das hätte auch anders enden können. Gut, dass ich für Wahrscheinlichkeitsrechnungen keine Zeit hatte und einfach schnell reagiert habe“, sagt er und fügt an: „Das haben an diesem Nachmittag aber alle Beteiligten getan.“