Plötzlich ist es ein Ernstfall
Die Wasserwacht wollte nur üben. Doch nun droht eine Frau zu ertrinken.

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Es geht um die stabile Seitenlage und um das Thema Herz-Lungen-Wiederbelebung bei Menschen, die zu ertrinken drohen. In der Übungsstunde der Wasserwacht Senden des Bayerischen Roten Kreuzes in der Nähe von Neu-Ulm zeigen Annika Esser und Frank Nicke an diesem Abend den Nachwuchskräften, was im Ernstfall zu tun ist. Sie können nicht wissen, dass sie in wenigen Minuten zu einem solchen gerufen werden.
Gegen 19 Uhr, während die Freiwilligen der Wasserwacht üben, bringt ein Anwohner der Mühlbachstraße in Senden seinen Müll zur Tonne. Es hat geschneit, im Wohnviertel ist es ruhig. Plötzlich hört der Mann, wie jemand um Hilfe ruft. Nicht laut, eher wimmernd, aber doch deutlich hörbar. Auf der anderen Seite der Straße verläuft der Mühlbachkanal, ein Seitenarm der Iller. Keine 100 Meter weiter fließt er in ein Kraftwerk. Dort treibt sein Wasser die mächtigen Turbinen an. Dem Anwohner ist klar: Sollte jemand in den Kanal geraten sein, ist diese Person in Lebensgefahr. Es ist zu dunkel, um etwas zu erkennen. Der Mann wählt den Notruf 112.
Keine Minute später alarmiert die Rettungsleitstelle die Wasserwacht. Aus der Übung wird ein Einsatz. Die 21-jährige Annika Esser und Frank Nicke, 47 Jahre alt, sitzen im ersten Fahrzeug, das mit Blaulicht zur Unglücksstelle braust. Vor Ort erwartet sie eine dramatische Szene: Ein Polizeibeamter steht auf der Brüstung über dem Gitter, das im Kanal treibende Eisschollen und Äste davon abhält, in die Turbinen zu geraten. Eiskaltes Wasser strömt mit Macht durch das Gitter – und presst eine Frau gegen die Metallstäbe! Der Polizist hält einen Ast in Händen, weit beugt er sich über das Geländer, am anderen Ende des Astes hat sich die Frau im Wasser festgeklammert. „Lassen Sie nicht los“, ruft der Beamte immer wieder, „halten Sie sich fest!“
Am Kraftwerkseinlauf ist das Bett des Kanals aus Beton. Annika Esser und Frank Nicke wissen: Man kann sich nirgendwo festhalten und ohne fremde Hilfe schafft es keiner heraus. Dazu sind Strömung und Strudel in der Betonwanne zu kräftig. Es ist eine der kältesten Nächte des Jahres – etwa minus 13 Grad. „Aber das ist in diesem Moment egal“, erzählt Esser. „Du sprichst dich rasch mit den anderen Helfern und dem Einsatzleiter ab und dann springst du rein. Du spürst die Kälte, aber das Adrenalin ist viel stärker.“ Mit ihrem Kollegen Frank lässt sie sich Richtung Kraftwerk treiben. 20 Sekunden später sind sie bei der Verunglückten. Keine Sekunde zu früh! Der Wasserdruck und ihre vollgesogenen Kleider ziehen die Frau nach unten. Immer wieder überspült das eisige Wasser ihren Kopf. „Gerade als wir sie erreichten, verließen sie ihre letzten Kräfte“, erzählt Nicke. „Sie reagierte nicht mehr.“
An Land sind weitere Rettungskräfte eingetroffen. Ein Scheinwerfer leuchtet den Einsatzort aus. Jemand ruft: „Sie haben sie!“ Esser und Nicke halten den Kopf der Frau über Wasser und klammern sich dabei selbst am Gitter und ihrem Rettungsbrett fest. Dabei handelt es sich um eine Art Surfbrett, mit dem man Verunglückte retten kann. Ihnen ist klar: Die Frau muss so schnell wie möglich aus dem Wasser, sonst wird sie an Unterkühlung sterben. Jemand wirft ein Seil ins Wasser. Mit vereinten Kräften drücken Esser und Nicke das Rettungsbrett unter den leblosen Körper der Frau.
„Schneller!“, ruft der Notarzt am Ufer. Esser sucht nach dem Seil, das nun ihre Verbindung zum Land ist. Die Scheinwerfer blenden. Wo ist es? „Rechts von dir“, ruft jemand. Gleich darauf hat sie das Seil in der Hand. „Ziehen!“ Feuerwehrmänner und die Kameraden der Wasserwacht legen sich ins Zeug, schleppen Retter und Verunglückte in Richtung Kanalmauer, während die Strömung an ihnen zerrt. Noch vier Meter, drei Meter, zwei Meter. „Vorsichtig!“
Dann sind die drei an der Kanalmauer. Mit vereinten Kräften wird die Frau an Land gezogen. Notarzt und Rettungsdienst übernehmen den Kampf um ihr Leben. Auch Esser und Nicke müssen die Helfer aus dem Kanal ziehen. Esser hört, wie der Notarzt die Anweisung gibt, den Rettungswagen so weit aufzuheizen, wie es geht. Sie sieht die goldene Folie, in welche die Verunglückte gewickelt wird. Jemand legt ihr einen Arm um die Schulter. Es ist Frank, ihr Kollege.
„Wir haben es geschafft“, sagt er. „Ja, gerade noch rechtzeitig. Jetzt hoffen wir das Beste“, antwortet sie. Wasser tropft aus ihren Neoprenanzügen und schmatzt in den Schuhen. „Kommt, wir haben warmen Tee“, sagt ein Feuerwehrmann. Im Rettungswagen wird die Verunglückte mit Blaulicht in eine Klinik in Ulm gebracht. "Wir wissen bis heute nicht, wie die Frau ins Wasser geraten ist“, berichtet Nicke. „Aber zwei Wochen später kam ihre Tochter bei uns vorbei und hat sich bedankt.“ „Dabei haben wir nur das gemacht, was wir immer wieder geübt haben“, fügt Esser hinzu. „Manchmal braucht man einfach einen Schutzengel. Als Geretteter, aber auch als Retter.“