Menschen

Autor: Olivier Van Caemerbèke

Rettung an Weihnachten

Nach einem Autounfall behält Nathan kühlen Kopf. Er rettet seine Mutter und seine Schwester

Das Blaulicht eines Polizeiautos in Großaufnahme

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©iStockphoto.com / Gwengoat

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Mama, wach auf!“, schreit Nathan, 13, sein Gesicht nur wenige Zentimeter von dem der Mutter entfernt. Er packt die Frau mit beiden Händen und schüttelt sie. Nathan hat große Angst, gerät aber nicht in Panik. Jessica Gross, 32, ist bewusstlos. Auf der Rückbank hängt die vierjährige Carla kopfüber im Kindersitz und weint. Das Auto der Familie hat sich zweimal überschlagen und ist auf dem Dach liegen geblieben – in einem Bach in der Nähe von Cessenon-sur-Orb, einem kleinen Ort im Département Hérault im Süden Frankreichs. Es ist der 25. Dezember 2023, 17.15 Uhr. Kurz zuvor hatte Jessica, Verkäuferin in einem Bekleidungsgeschäft, ihren Kindern zugerufen: „Zieht euch an. Wir fahren ein paar Tannenzweige holen und schmücken den Esstisch für heute Abend.“

Es ist noch hell, fast zehn Grad und trocken. Jessica freut sich auf den Ausflug. Am Dorfausgang parkt sie den blauen Hochdachkombi an einem kleinen Weg, der von der Landstraße abzweigt. Der Platz ist ideal. Von hier ist es nicht weit bis zu den Tannen, sodass Carla in ihrem Kindersitz sitzen bleiben kann. Mutter und Sohn sammeln ein paar Zweige und gehen zurück zum Auto. Noch bevor Jessica den Sicherheitsgurt anlegt, will sie rückwärts zurück auf die Straße fahren. Dabei gerät das rechte Hinterrad in den Rand der Böschung. Unter dem Gewicht gibt die Erde nach, das Fahrzeug kippt. „Wir fallen!“, ist alles, was die Mutter noch rufen kann. Das Auto rutscht in die Tiefe, überschlägt sich zweimal. Jessica wird gegen das Beifahrerfenster geschleudert. Nach dem Unfall ist es ganz still. Das Auto liegt auf dem Dach, mitten im Bach. Eiskaltes Wasser dringt durch die zerborstene Windschutzscheibe. Jessica ist bewusstlos. 

Nathan geht in Cessenon-sur-Orb in die achte Klasse. Er ist eher schmächtig, doch alle, die ihn kennen, wissen, dass er ganz schön stark ist. Als begeisterter Fußballer spielt er im Verein von Cazouls-lès-Béziers. Bei seinen Mitschülern ist er beliebt. Und als großer Bruder passt er gut auf seine kleine Schwester auf.
Beim Sturz klammert er sich mit aller Kraft an den Beifahrersitz. Als sich das Auto nicht mehr bewegt, liegt er unter seiner Mutter. Er ist benommen, aber bei Bewusstsein. Nathan klettert nach hinten, wo er Carla aus ihrem Kindersitz befreit. Er drückt sie fest an sich und zwängt sich zusammen mit ihr durch ein Fenster ins Freie. An der Straßen­böschung setzt er sie ab. „Warte hier. Ich hole Mama!“
Er klettert zurück ins Auto. Seine Mutter liegt auf dem Bauch, das Wasser steht 20 Zentimeter hoch. Nathan hebt ihren Kopf an, damit sie nicht ertrinkt. Da erinnert er sich an den Erste-Hilfe-­Kurs, an dem er eine Woche zuvor in der Schule teilgenommen hat. Er legt Jessica in die stabile Seitenlage. „Wach auf, wach auf!“, ruft er und schüttelt sie. Sie kommt zu sich. „Was machen wir hier? Wo sind wir?“, stammelt sie.

Nathan hilft seiner Mutter aus dem Auto

Mit Nathans Hilfe klettert sie aus dem Auto und setzt sich an die Böschung. Doch noch sind die drei nicht in Sicherheit. Wie soll man sie von der Straße aus sehen, zumal es bereits dunkel ist? „Mama, ich hol ein Handy aus dem Auto.“ Im Wageninneren tastet der Junge vergeblich nach einem Handy. Er sagt sich, dass er besser die Böschung hochklettert, um Hilfe zu holen. Die vier Meter hoch bis zur Straße führen durch dichtes, stacheliges Brombeergestrüpp. Als der Wagen sich überschlug hatte Nathan seine Schuhe verloren, aber er spürt die Schmerzen kaum. 
Oben an der Landstraße muss er nicht lange warten. Schon bald tauchen Scheinwerfer auf. Wie ein Schiffbrüchiger winkt Nathan mit den Armen, und ein Wagen mit zwei jungen Leuten hält an. Es ist 18.50 Uhr, als Feuerwehrleute zunächst Carla, dann ihre Mutter die Böschung hochtragen. Jessica ist unterkühlt, sie hat eine Gehirnerschütterung und Prellungen. 

François Ayuda, freiwilliger Feuerwehrmann, ist beeindruckt, wie besonnen sich der Junge verhalten hat. „Als ich den Puls und den Blutdruck seiner Schwester messen wollte, geriet sie in Panik“, erinnert er sich. Ihr Bruder beruhigte sie und sagte: „Guck mal. Die Leute hören Mamas Herz ab und messen ihre Temperatur, das tut nicht weh.“ Die Kinder sind unverletzt und können mit ihrem Vater nach Hause fahren. Ihre Mutter wird am nächsten Tag aus dem Krankenhaus entlassen. Seit dem Unfall fällt es ihr schwer, den Kopf zu drehen. „Aber es hätte viel schlimmer enden können“, vermutet Ayuda. „Niemand wusste, wo sie waren. Bis der Vater sich Sorgen gemacht hätte und ein Suchtrupp zusammengestellt worden wäre, hätte seine Frau an Unterkühlung sterben können.“

Am 26. Dezember empfangen die Feuerwehrleute Nathan in der Feuerwache. Sie gratulieren ihm zu seinem Verhalten und überreichen ihm ein Geschenk. Später verleiht der Präfekt des Départements Hérault dem Jungen eine Auszeichnung für Zivilcourage. „Der Unfall hat mich verändert“, erklärt der 13-Jährige. „Ich habe mehr Selbstvertrauen und fühle mich noch stärker.“